Süddeutsche Zeitung

Anonymität in der Großstadt:Warum interessieren sich Münchner so wenig für ihre Nachbarn?

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In Miethäusern wohnen Menschen auf engstem Raum zusammen, ohne je ein Wort miteinander zu wechseln. Diese Anonymität empfindet unsere Autorin aus Uganda als bedrückend.

Kolumne von Lillian Ikulumet

Es gibt da diese Person, die ich nur den "Schatten" nenne. Der Schatten wohnte im selben Mietshaus wie ich selbst, in einem Vorort von München. Ich erinnere mich gut an die Tür, hinter der der Schatten mehrere Jahre lang verschwand. Eine Tür mit einem Guckloch und einem Schild mit dem Nachnamen. Ich weiß nicht einmal, ob es sich beim Schatten um einen Mann oder eine Frau handelte. Denn der Schatten huschte stets so schnell über die Türschwelle, dass ich seinen Urheber all die Jahre nicht zu Gesicht bekam.

In Münchens Miethäusern wohnen Menschen auf engstem Raum zusammen, ohne je ein Wort miteinander zu wechseln. Wobei ich mich immer noch frage: Warum interessieren sich so viele Münchner so wenig für die, die gleich nebenan wohnen. Fragen sie sich nicht, wer eigentlich diese Menschen sind, mit denen sie sich ein Gebäude teilen. So etwas möchte ich doch wissen, gerade wenn ich neu in ein Haus gezogen bin! Oder?

Als ich in meine erste Münchner Wohnung gezogen war, empfand ich die Anonymität im Haus sehr schnell als bedrückend. Also entschloss ich mich nach einigen Wochen, die Hausbewohner zu einem afrikanischen Chai einzuladen, also zu einer Zusammenkunft bei Kuchen, Tee oder Kaffee am Samstagnachmittag. Dafür steckte ich in jeden Briefkasten eine selbst gebastelte Einladung. Ich hatte keine Ahnung, ob und - wenn ja - von wem meine Chai-Einladung angenommen würde. Aber versuchen musste ich es.

Der Chai-Tag kam und eine ältere Dame erschien. Sie trat aus dem Schatten hervor und besuchte mich. So erfuhr ich Geschichten über ihren Ehemann und die fünf Kinder. Fünf Kinder, wie beeindruckend. Sie ist seitdem eine gute Nachbarin, zu der ich gehe, wenn ich Salz oder Zucker brauche. Die meisten anderen aber sind Fremde geblieben, denen ich lediglich auf der Treppe begegne. Die mich höflich grüßen, mehr aber auch nicht. Es scheint mir zu sein, als wollte jeder alleine in seiner eigenen kleinen Welt leben.

Ich habe oft und lange darüber nachgedacht, warum es wohl so schwierig ist, seine Nachbarn besser kennenzulernen. Weil es doch eigentlich überhaupt nicht schwierig ist. In Uganda, wo ich her komme, sind Nachbarn fast wie Freunde oder Familie. Ich erinnere mich an einen meiner Nachbarn, der jeden Abend an meiner Tür klopfte, um mit mir eine Fernsehserie anzuschauen, danach haben wir uns über die Folge unterhalten und viel gelacht. Ein anderer kam immer vorbei, um die Zeitung zu lesen, die ich von der Arbeit mitbrachte. Danach haben wir über die Nachrichten diskutiert.

Nach längerer Zeit in München empfinde ich die Anonymität immer noch als befremdlich. Der Vorteil: Nachbarschaftsprobleme habe ich mit dem Schatten nie bekommen. In Münchens Mehrparteienhäusern gilt oft: leben und leben lassen. Es finden sich aber auch Bewohner, die nur darauf warten, dass sie Kritik üben können. Wie Raubtiere auf ihre Beute warten sie darauf, dass ein unerfahrener Neuankömmling einen Fehler begeht. Zum Beispiel, den Kinderwagen im Foyer stehen lassen, ohne ihn vorher einzuklappen. Oder einen Parkplatz zu besetzen, der einem anderen Bewohner vorbehalten ist - die Todsünde.

Manche Nachbarn lassen sich gut ärgern. Etwa mit langen Grillabenden auf dem Balkon, unterstützt durch laute afrikanische Musik. Ob sich der Schatten daran störte - oder ob er sich gerne dazu gesellt hätte? Leider habe ich es nie herausgefunden.

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Quelle:
SZ vom 22.02.2019
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