Süddeutsche Zeitung

Nachempfundene Wirklichkeit:Fast wie im richtigen Leben

Lesezeit: 4 min

Mit Virtual-Reality-Brillen eröffnen sich täuschend echte digitale Welten. Das machen sich in München viele Firmen zunutze - und auch die Stadt selbst

Von Thomas Jordan

Seit knapp einem Jahr kann man im Münchner Eisbach surfen, ohne nass zu werden. Oder im Hofbräuhaus die Stimmung genießen, ohne den Kater am Morgen zu spüren. Beinahe zumindest. Alles, was man dazu braucht, ist die Virtual-Reality-App von muenchen.de, dem Internetportal der Stadt. In 360-Grad-Perspektive taucht man ein in die Surferwelle, noch realer ist der Wellenritt, wenn man sich eine VR-Brille aufsetzt, die es in günstigen und teuren Varianten zwischen 30 und 900 Euro gibt. "Wir wollten München emotional vermitteln," sagt Claudio Franchi, der das VR-Projekt leitet, eines der ersten dieser Art weltweit. Acht Sehenswürdigkeiten hat er mit seinem Team in ungewöhnlichen Perspektiven gefilmt und in Panoramafotos festgehalten.

Die kostenlose München-App ist so etwas wie die Einsteigervariante in die virtuelle Welt, die einem inzwischen an immer mehr Orten in der Landeshauptstadt begegnet. Denn die Möglichkeiten gehen weit über ein Touristenvergnügen hinaus: Start-up-Unternehmen, Autofirmen, Forschungsinstitutionen oder der FC Bayern nutzen Virtual Reality, bei mehreren Stammtischen treffen sich Münchner, um über die neuesten Trends zu sprechen. Im Herbst dieses Jahres findet zum ersten Mal die "Augmented World Expo" in München statt, die weltgrößte Konferenz im Bereich virtuell angereicherter Realitäten.

Aber auch im Alltag begegnet man den täuschend echten Digitalwelten immer häufiger. Zum Beispiel, wenn man die Kirchenstraße in Haidhausen entlang geht und sich von einer handgeschriebenen Holztafel mit Kuchenspezialitäten in einen Innenhof locken lässt. Der 33-jährige Informatiker Sebastian Steuer und seine Schwester Samantha haben dort das erste "Virtual Reality Center" Münchens aufgemacht, eine Mischung aus Café mit Himbeertörtchen und digitaler Trainingshalle. "Presence" steht seit ein paar Wochen in großen weißen Buchstaben auf der blauen Fassade der ehemaligen Autowerkstatt.

An diesem Nachmittag geben sich vor allem Studentengrüppchen und Kinder mit ihren Eltern der oft schweißtreibenden VR-Erfahrung hin. Ein wenig benommen sieht der zwölfjährige Neerav aus, als er die taucherbrillengroße VR-Brille vom Kopf zieht. Eine Stunde hat der Junge im Virtual Reality Center gegen Robotermonster gekämpft. Sensoren registrieren dabei seine Bewegungen und bauen sie in die Spielwelt ein. Drei Euro kosten fünf Minuten.

"VR bietet einem ein Erlebnis anstatt einer abstrakte Idee. Ich glaube das ist der große Unterschied", sagt Samantha Steuer, die sich darum kümmert, dass sich die Gäste nach einem Trip in die virtuelle Welt mit Kaffee und Kuchen stärken können. Statt nur zu wissen, dass der 15. Stock eines Hochhauses ziemlich weit oben ist, erlebt man mit VR die Höhe ganz unmittelbar, wenn man auf die Dächer einer Großstadt hinabblickt. Man zögert dann auch ziemlich lange, bevor man sich endlich mit einem Fuß auf die schmale Holzlatte hinauswagt, die aus dem Aufzug herausragt. Die Technik lasse sich sogar therapeutisch nutzen, sagt Sebastian Steuer, der auch Psychologie studiert hat. Er habe Gäste, die mit seiner Hochhaussimulation ihre Höhenangst in den Griff kriegen wollten.

Wenn man wissen will, wie vielfältig computergenerierte Realitäten inzwischen eingesetzt werden, trifft man sich am besten mit Dirk Schart. Der 46-Jährige leitet die Presseabteilung des VR-Startups Reflect. Seit vielen Jahren schon organisiert er einen der Münchner Szenetreffs, die sich mit digitalen dreidimensionalen Welten beschäftigen. "Mixed Reality Meet-up" heißt er, denn neben der virtuellen Realität mit ihren taucherbrillengroßen Headsets geht es hier auch um "Augmented Reality", virtuell angereicherte Realität.

60 bis 80 Teilnehmer kämen zu den monatlichen Treffen, auf der Warteliste stünden noch mehr. "Wir limitieren", sagt der Marketingexperte Schart, es komme "eine bunte Mischung von Leuten", Studenten, Entwickler, Designer, Mitarbeiter von großen Münchner Unternehmen genauso wie Leute aus den kleinen Start-ups. "Wir sind eine Community", betont der gebürtige Pforzheimer. Ansonsten erinnert der präzise geplante Ablauf der monatlichen Meet-ups, bei denen es Bier und Pizza gibt, eher an ein Geschäftsessen mit Joboption als an einen gemütlichen Stammtisch. "Drei bis vier Präsentations-Slots pro Abend, eine Produktdemonstration, danach Networking", zählt Schart auf.

Auch die großen Unternehmen haben die Möglichkeiten von VR längst für sich entdeckt. Beim Autobauer Audi zum Beispiel heißt das Stichwort Produkt-Individualisierung. Mithilfe von VR sollen Kunden ihren zukünftigen Traumwagen in allen verfügbaren Lackierungen und Ausstattungspaketen erleben können, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Tageszeiten. Dazu hat Audi am Münchner Flughafen die "Audi-Mysphere" eingerichtet. Seit gut einem Jahr gibt es die zwei Lounges, in denen Kunden die Farbreflexe auf der Karosserie bei isländischer Sonne, nachts im Tunnel oder in einer Mondkraterlandschaft vergleichen können.

Der Herrscher über Raum und Zeit heißt hier Levent Sahin. Als Kundenberater steuert er mit seinem iPad die VR-Show, während sich die meist nicht mehr ganz jungen Kunden mit einer Brille auf dem Kopf zurücklehnen. Die Technikaffinen können im Nachbarraum, den Sahin "Walking Experience" nennt, auch aus dem virtuellen Auto aussteigen und den Motor inspizieren. "Die meisten stehen gebückt auf", sagt er, so echt wirke die Simulation, dass die Kunden vergessen, dass sie auf einer Bank in einer schicken Business-Lounge sitzen, nicht in einem Wagen.

"Wie spannend wäre es erst, wenn man so eine schicke Brille hätte, und wir reden hier über den neuen Audi Q 2 und sehen uns gleichzeitig noch", sagt Thomas Zuchtriegel, der als VR-Spezialist im Vertrieb von Audi seit dreieinhalb Jahren das Thema virtuelle Realität betreut. Statt mit klobigen schwarzen Brillen von der Umwelt abgeschnitten zu sein, könnte man dann virtuelle Zusatzinformationen bei Bedarf in schmale Sportbrillen einblenden. Im Audi-Showroom ist das noch Zukunftsmusik.

Für Gudrun Klinker sind solche Fragen das tägliche Geschäft. Die Professorin erforscht an der TU München die Möglichkeiten, die "Welt technisch so auszustatten, dass Augmented Reality möglich ist". Ihr Ziel ist es, in Gebäuden eine Infrastruktur zu entwickeln, "in die man sich hineinklinkt", mit seinem Handy oder eben einer Brille. "Wenn ich in ein Gebäude reingehe, dann soll mein Handy wissen, da hinten ist die rote Tür, die Überwachungskamera soll sagen, da ist die Person mit dem blauen Hut", kurz, "Leute gehen in Gebäude und bekommen die Informationen, die sie brauchen." Virtuelle und reale Welt verschmelzen in Klinkers Forschung, "sehr großes Potenzial" sieht die Informatikerin in dieser virtuell angereicherten Realitätswahrnehmung. Schließlich könnten Menschen mit virtueller Hilfe Tätigkeiten durchführen, zu denen sie ansonsten nicht oder nicht mehr in der Lage seien. Weil ihnen Wissen dazu fehlt oder weil die Sinne im Alter ein wenig nachlassen. Das Leben einfacher machen und Produkte emotionaler und individueller verkaufen zu können, das sind die großen Hoffnungen die Münchner Firmen mit dem Wechsel zwischen den Realitäten verbinden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3580101
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.07.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.