Süddeutsche Zeitung

MVV-Ticket:Das Dilemma der Isarcardsechzger

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Fürs Altern gibt es viele Anzeichen. Doch kaum eines ist so niederschmetternd wie das Seniorenticket des MVV.

Kolumne von Karl Forster

Die Wissenschaft sagt, das Alter beginne mit dem Ende der Jugend, also schon ziemlich bald, mit 25 aufwärts oder so. Auch wenn das der Alternde noch gar nicht merkt. Da dreht sich der Bergsteiger selbstverständlich eine Zigarette bei der Rast in der Watzmann-Ostwand. Er hustet auch nicht bei der Gauloises oben auf dem Col de Tende zwischen Italien und Frankreich nach 46 Spitzkehren mit dem Rennrad. Er genießt den postkoitalen Qualm im fremden Bett. Kurz: Er lebt im besten Sinne unvernünftig. Und ans Alter denkt er nicht.

Das passiert dann erstmals vielleicht ein Dezennium später, wenn der Orthopäde, um Auskunft gebeten, ob gegen das schmerzende Knie denn eine Kreuzband-Plastik helfe, sagt: "In Ihrem Alter macht man das nicht mehr." In meinem Alter? Spinnst Du, Alter? Und wieder vergehen Jahre, es sammeln sich langsam ein paar Ersatz-Enzyme und Ähnliches in Tablettenform über dem Waschbecken, gegen zu viel Harnsäure, gegen zu hohen Blutdruck, gegen dies und für das. Alter - was ist das? Doch irgendwas klopft da an.

Und dann kommt's. Plötzlich tauchen Begriffe auf wie Rentenbescheid, Beitragsbemessungsgrenze, Seniorenschnitzel. Und Isarcard 60. Das ist der schlimmste, weil arg verlogen. Verkündet Lebenserleichterung im MVV-Bereich und ist doch Stigma der Vergreisung. Verschämtes Anstehen beim MVV-Schalter unterm Hauptbahnhof. Die Dame könnte jetzt sagen: "Na gell, Sie san no koane sechzig!" Doch sie sagt nichts, stellt den Schein aus und erklärt einem den Innenstadtbereich, als sei man bereits zum Volltrottel vergreist.

Okay, jetzt ist man also ein "Isarcardsechzger". Man fährt die U 6 rauf und runter, weil man's darf. Man entert die Straßenbahn ohne Ziel, weil man's darf. Ja, das Alter hat auch seine Vorteile. Aber man möchte jetzt bitte einmal kontrolliert werden! Sofort! Und dann soll der Kontrolleur vor allen anderen MVV-Gästen sagen: "Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis, Sie sind doch noch keine sechzig." Aber er kommt nicht, der Kontrolleur. Dann kommt er doch. Schaut einem nicht mal ins Gesicht, nur auf die Isarcard 60. Bitte, danke. Die Schöne gegenüber lächelt, hat wahrscheinlich eine Studentenkarte. Früher hätte man zurückgelächelt. Das geht jetzt leider nicht mehr.

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Quelle:
SZ vom 03.03.2017
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