Süddeutsche Zeitung

München:Wie sich das Schlachthofviertel ändert - und mit ihm die Boazn

Lesezeit: 5 min

Irmgard Jörg ist seit 1984 Wirtin im Bierschuppen. Hier wird Zusammenhalt gelebt - auch in schwierigen Zeiten.

Von Tobias Mayr

Ein junger Mann mit Vollbart und Outdoorjacke steckt den Kopf zur Tür des Bierschuppens herein. Er kommt nicht für ein Bier oder um eine Runde Watten zu spielen. "Es müsste ein Paket für mich abgegeben worden sein", sagt er. Im Schaufenster stapeln sich nicht abgeholte Päckchen bereits zu einem Turm. Irmgard Jörg, die Wirtin, zieht das richtige Paket heraus. Der Mann bedankt sich und verschwindet mit einem knappen "Tschüss". Ein Stammgast mit weißem Schnauzer brummt ihm hinterher: "Hier herinnen herrscht tschüssfreie Zone."

Im Bierschuppen am südlichen Ende des Schlachthofviertels treffen Alteingesessene und Zugezogene aufeinander. Meist ist die Begegnung flüchtig. Das urige Lokal war schon immer eine Arbeiterkneipe. Doch das Schlachthofviertel ist kein Arbeiterviertel mehr. Gerade in Räumen, in denen sich nichts verändert, wird diese Veränderung spürbar.

Junge Berufstätige holen sich heute kein Feierabendbier mehr bei Irmgard Jörg. Stattdessen holen sie sich die Pakete, die sie tagsüber verpasst haben. "Die Akademiker", so nennt die Wirtin die Neuen, "gehen nicht mehr in solche Stüberl." Warum? Das wisse sie selbst nicht, sagt Jörg und schüttelt den Kopf.

Wer durch die große Scheibe des Lokals auf die Straße blickt, sieht ein sich veränderndes Viertel. Mietwohnungen sind in Eigentumswohnungen umgewandelt worden, alteingesessene Arbeiter mussten deshalb wegziehen. "Früher haben die Leute die Nase gerümpft, wenn sie gehört haben, dass wir im Schlachthofviertel wohnen. Heute wollen sie alle hierher", sagt Irmgard Jörg.

Ihrem Lokal sieht man diese Veränderung nicht an. Es wirkt, als hätte sich der Zahn der Zeit hier die Zähne ausgebissen. Manch andere Boazn in der Gegend, wie die "Gruam" oder die "Geyerwally", sind unter neuen Besitzern hip geworden und ziehen junges Publikum an. Der Bierschuppen nicht. Zwar verirren sich immer mal wieder junge Leute ins Lokal, die im Internet vom Bierschuppen gelesen haben, aber angesagt kann man das Stüberl deshalb nicht nennen.

Die Gäste mögen die Patina

Das Radio spielt keine Playlist, sondern Antenne Bayern. An den gelben Wänden hängen Fußballwimpel aus den Zeiten, als der TSV 1860 München noch erste Bundesliga spielte. Die einst farbige Zeichnung eines Segelschiffs, das stürmische Wellen durchkämmt, hebt sich kaum von der dunklen Holzvertäfelung ab. Die 30 Jahre, die im Bierschuppen geraucht werden durfte, sieht man dem Interieur an. Die Gäste schätzen das.

Im Bierschuppen geht es um Zusammenhalt. Zusammenhalt in einem Viertel, in dem vieles im Umbruch ist. Davor fürchten sich Alteingesessene manchmal. Vielleicht bietet ihnen Irmgard Jörgs Bierschuppen einen authentischen Rückzugsraum. Und vielleicht ist es deshalb so schwierig für die Neuen, sich im Bierschuppen zurecht zu finden. Dennoch begegnen die beiden Gruppen sich hier zwangsläufig.

Irmgard Jörg ist sechs Tage die Woche hier, zwölf Stunden pro Tag. Im März wird sie ihren 76. Geburtstag feiern. 1984, damals war sie 42 Jahre alt, hat die Kantinenköchin das Stüberl gemeinsam mit ihrem Mann übernommen. "Es war immer der Traum von meinem Mann, ich wollte das nie", sagt sie über den Ort, in den sie heute ihre gesamte Energie investiert. Der Mann geriet kurz darauf in einen Autounfall und konnte nicht mehr arbeiten. Seither macht Irmgard Jörg den Bierschuppen alleine.

"Alleine machen", diese Aussage beschreibt die Einstellung der 75-Jährigen gut. Sie möchte möglichst alles selbst stemmen. Sie ist ein Durchbeißertyp. Andernfalls wären Zwölf-Stunden-Schichten in diesem Alter auch nicht zu meistern. Irmgard Jörg tut das ab, als wäre es nichts Besonders. Über sich selbst zu reden, fällt ihr schwer. Ihre Antworten sind dann knapp. Sie bleibe lieber im Hintergrund, sagt sie selbst.

Die Wirtin sitzt an dem einzigen Tisch und blickt in ihr 20 Quadratmeter großes Reich. Die Veränderungen im Schlachthofviertel sind Veränderungen, die Irmgard Jörg von diesem Platz aus gut beobachten kann.

Früher, in den Neunzigerjahren, hätte sie mittags nicht am Tisch gesessen und in der Zeitung geblättert, so wie heute. "Dazu wäre gar keine Zeit gewesen", sagt sie. Um 9 Uhr standen die Arbeiter von Großmarkthalle und Schlachthof vor der Tür und wollten eine Brotzeit serviert bekommen. Zu Mittag kamen sie wieder für eine Kleinigkeit, und um 17 Uhr wurde das erste Feierabendbier bei ihr getrunken. "Da sind sie in Dreierreihen in der Stube gestanden", erzählt die Wirtin.

Heute lehnt mittags ein einziger Gast an der Theke, ein dunkles Bier steht vor ihm auf der Bar. Schlachthof und Großmarkthallen beschäftigen längst nicht mehr so viele Menschen wie früher. Und als der Blumengroßmarkt ins Schlachthofviertel zog, brachte er seine eigene Kantine mit. Zu Irmgard Jörg kommen seither nur noch diejenigen, die schon immer gekommen sind. Wenn sie noch leben.

An der Wand hängen Ausflugsfotos neben Sterbebildern. Auf den Rahmen sind die Lebensdaten bereits verstorbener Stammgäste fein säuberlich aufgezeichnet. Auch ein gerahmtes Bild von Snoopy hängt dort. Snoopy war der "Haus- und Hofhund", den Irmgard Jörg mehr als 15 Jahre hütete. "Da waren mehrere traurig, als der gestorben ist." Jörg seufzt. Auf dem Foto spielt Snoopy mit der vergilbten Gardine des Schaufensters. Auch heute noch hat die 75-Jährige ein paar Leckerli in der Küche, für den Fall, dass ein Hund zu Besuch kommt.

"Wir werden hier alle gemeinsam alt", sagt Irmgard Jörg immer wieder. Sie und ihre Stammgäste sind eine eingeschworene Gemeinschaft. "Eigentlich eine Familie", sagt sie. Für ihre Tochter und die zwei Enkelkinder bleibt ihr höchstens am Sonntag Zeit. Unter der Woche ist das Stüberl ihre Familie. Hier hält man zusammen, man ist füreinander da und man passt gegenseitig aufeinander auf. Hinter der Bar hängt ein großer Geburtstagskalender, daneben stehen Glücksschweinchen auf dem Regal. Zum Jahresbeginn bekommt jeder einen Glücksbringer von Irmgard Jörg. So will es die Tradition. Eine Dame über 80 klagt, dass sie nach 30 Jahren gar nicht mehr wisse, wohin mit den ganzen Schweinchen. Die Freundschaften der Wirtin mit ihren Gästen bestehen in der Regel schon Jahrzehnte.

Mancher Club hat sich hier gegründet

Im Bierschuppen gibt es auch einen Trikefahrer-Klub. Jedes Jahr mietet sich die Gruppe die motorisierten Dreiräder und fährt ein Wochenende weg, diesen Sommer soll es nach Franken gehen. Kennengelernt haben sich die Trikefahrer hier im Lokal. Die Wänden zieren Gruppenfotos von den Reisen vergangener Jahre. Früher hat das Lokal auch gemeinsame Busreisen mit 50 Leuten nach Garmisch oder an den Königssee organisiert. Jetzt sei man zu alt für diese "Familienausflüge", wie Jörg die Reisen nennt. Und es wären auch nicht mehr genügend Leute übrig.

Irmgard Jörg ist über die Jahre mehr Vertrauensperson als Wirtin geworden. Bei ihr haben sich schon viele Gäste Kummer und Sorgen von der Seele geredet. Sie wissen, dass "ihre Irmi" immer für sie da ist. Umgekehrt war auch das Lokal da, als Irmgard Jörg plötzlich Hilfe brauchte. Im Mai vergangenen Jahres stürzte sie und kam mit einem Oberschenkelbruch ins Krankenhaus. "Sofort war jemand da, der das Tagesgeschäft übernommen hat", erzählt Jörg. Sechs Wochen stand ein Gast am Ausschank, ein anderer übernahm die Lebensmitteleinkäufe, ein Dritter besorgte das Bier. So ging das Leben wie gewohnt weiter - in einem Viertel, das gerade einen Umbruch erlebt.

Irmgard Jörg steht wie ihr Lokal zwischen diesen Welten. Sie wird von beiden gleichermaßen geschätzt, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. An den Paketen, die sie entgegennimmt, verdient sie keinen Cent. Doch Irmgard Jörg ist kein Mensch, der darüber klagen würde. "Mei, es ist halt so", sagt sie. Das ist einer ihrer Lieblingssätze. An den hohen Mieten und den Eigentumswohnungen könne man ja auch nichts ändern.

Den Spaß am Lokal lässt sie sich davon nicht verderben. "In meinem Alter bringt mich nichts mehr aus der Fassung", sagt sie. Alle ihre Gäste würden sich wünschen, dass Irmgard Jörg mit dieser Einstellung noch lange weitermacht, mindestens bis zu ihrem neunzigsten Geburtstag. Fast alle zumindest. "Ich sag immer, sie soll aufhören", scherzt der Gast an der Theke, "dann würde ich endlich vom Alkohol loskommen." Das Bier vor ihm ist mittlerweile nicht mehr das erste. Da öffnet sich die Tür und ein Paketbote legt ein Päckchen zu den anderen ins Fenster. In Wahrheit brauchen sie alle Irmgard Jörg. Alteingesessene und Neubürger im Viertel gleichermaßen.

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Quelle:
SZ vom 14.02.2018
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