Süddeutsche Zeitung

Verschwundene Orte:Die Nabelschnur zur Großstadt

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Die Isartalbahn erschloss das einst isolierte Oberland. Sie brachte Ausflügler in die Natur - und Milch und Hendl nach München.

Von Thomas Anlauf

Die Gleise liegen im Unterholz. Sogar eine alte Weiche ist noch zu sehen im Dickicht am Rand der kleinen Grünanlage. Doch die Stahlstränge verlieren sich im Nichts, ein paar Meter weiter stehen seit einigen Jahren elf Wohnwürfel, die Isargärten; im Süden der toten Gleise liegen die aufwendig sanierten Reste des einst riesigen Betriebswerksgeländes der Münchner Lokalbahn Aktien-Gesellschaft LAG. Wo einst Züge im Lokschuppen gewartet wurden, sind nun Firmen angesiedelt, von der einstigen Drehscheibe für die Lokomotiven ist nur noch der kreisrunde Vorplatz zu erkennen. Andreas Weigand steht am Rand des Platzes und blinzelt in die Junisonne. "Das war hier die Hauptwerkstätte der Firma für ganz Deutschland." Der 36-Jährige klingt beinahe stolz darauf, dabei wurde die LAG bereits 1938 verstaatlicht, vor 55 Jahren zuckelten die letzten Fahrgäste mit der Isartalbahn durch den Süden Münchens.

Weigand ist einer der wenigen Experten für die Geschichte der alten Isartalbahn, obwohl er zu jung ist, als dass er überhaupt mit der ersten S-Bahn Süddeutschlands hätte fahren können. Weigand wuchs aber in Thalkirchen auf und 1995 wollten er und ein Schulfreund genau wissen, was es denn mit den alten Gleisen und den verfallenden Backsteingebäuden in der Nachbarschaft auf sich hatte. "Wir haben uns gesagt, das schauen wir uns genauer an", erzählt er heute. Die Beiden studierten Landkarten, um überhaupt herauszufinden, wo denn die Bahntrasse verlaufen war. Ein paar Jahre später, da war Andreas Weigand gerade mal 17, entdeckte er im Bayerischen Staatsarchiv die Konzessionsurkunde für den Betrieb der Isartalbahn. "Die Betreibergesellschaft war ziemlich innovativ, die waren Pioniere auf dem Gebiet", sagt Weigand.

Die Staatsbahn hatte ja die wichtigsten Strecken schon gebaut, also blieben der Lokalbahn-Aktiengesellschaft nur Nebenstrecken, etwa zwischen Bad Aibling und Fellnbach sowie Türkheim und Wörishofen. Doch die Verantwortlichen versprachen sich viel von ihrer neuen Münchner Linie: So konnten Ausflügler das bis dahin weitgehend isolierte Oberland vor und hinter Wolfratshausen entdecken, umgekehrt wurde mit der Bahn die Stadt mit Holz, Getreide und anderen Lebensmitteln versorgt. "Es gab täglich Milchpendelzüge nach München", hat Weigand erfahren. In den Sechzigerjahren erwarb Wienerwald-Gründer Friedrich Jahn den Boschhof bei Königsdorf und brachte mit der Bahn sogar seine dort gezüchteten Hendl mit der Isartalbahn in die Landeshauptstadt.

Die neue Lokalbahn sprach sich bei der Münchner Bevölkerung schnell als Attraktion herum, obwohl der Isartalbahnhof an der Schäftlarnstraße bei der Einweihung noch außerhalb der Stadtgrenze lag. Doch die Stadt richtete pünktlich zur Inbetriebnahme der ersten Teilstrecke am 1. Juni 1892 eine Pferdestraßenbahn vom Sendlinger Tor bis zum Startbahnhof ein. Von dem Backsteingebäude an der Großmarkthalle, das noch existiert und in dem heute die Johanniter-Unfall-Hilfe ihre Räume hat, ging es links der Isar über Maria Einsiedel über die Prinz-Ludwigs-Höhe zum Isartalbahnhof Großhesselohe. Das Ziel der Ausflügler galt im Sommer der Isar, den Hügeln und Almen im Süden der Stadt, im Winter entwickelten sich vor allem Ebenhausen und Icking schnell zu beliebten Wintersportorten. Der Weg von Ebenhausen hinunter zum Kloster Schäftlarn wurde im Winter zu einer Rodelstrecke umfunktioniert. Unten gab es im Bräustüberl Glühwein, oben im Wirtshaus Bier und deftige Mahlzeiten.

Selbst der Rodelspaß war Teil des Konzepts der Isartalbahn-Betreiber. Die Bahn verlieh Schlitten, bergauf zogen Pferde die Rodler wieder zum Bahnhof. Auch in Icking gab es im Winter eine Attraktion: An Weihnachten 1926 wurde am Steilhang zum Isartal eine Skisprungschanze eingeweiht, Hunderte Münchner waren laut Zeitzeugenberichten eigens angereist. Schon zwei Winter später wurden an der Schanze die ersten Münchner Nordischen Skimeisterschaften ausgetragen. Bereits 1892 fuhren knapp 300 000 Menschen mit der neuen, modernen Bahn nach Süden. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kam der Ausflugstourismus jedoch zunächst fast zum Erliegen. Fahrgäste mussten nachweisen, dass ihre Reise besonders dringend war, in der Isartalbahn wurde die Mitnahme von Rodeln und Schneeschuhen sogar verboten.

Der Betrieb warf keinen Gewinn ab

Auch wenn die Bahnstrecke von Anfang an ziemlich beliebt bei den Münchnern wie bei den Bewohnern der Ortschaften entlang der oberen Isar und Loisach war - viele Gemeinden hatten sogar schon vor dem Bau der Bahn vergeblich dafür gekämpft, dass die Züge dereinst nicht nur nach Bichl, sondern womöglich bis nach Italien fahren könnten - war der Betrieb der Lokalbahn oftmals defizitär. Der Anspruch der Betreiber, eine hochattraktive Bahnverbindung zu bieten, war wohl zu hoch, die Preise dafür zu niedrig. Die Gemeinden entlang der Strecke gaben Geld, damit die Isartalbahn nicht ihren Betrieb einstellen musste. Für die Anwohner im Süden waren die Züge ein Anschluss an die weite Welt.

"Was wäre wohl mit dem Isartal passiert, wenn es die Bahn nicht gäbe?", fragt sich Andreas Weigand. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war die Strecke für Wolfratshauser, Beuerberger, Eurasburger die Nabelschnur zur Großstadt. Während die Münchner vor allem aus Vergnügen mit der Bahn aufs Land ratterten, bedeutete es für die Menschen im Oberland ein wichtiges Transportmittel, um ihre Waren nach München zu bringen. Bis zum Bau der Bahn waren die Flößer die wichtigsten Transportunternehmer. Mit dem Fernreisefloß konnten Betuchte sogar einmal wöchentlich von München über die Isar die Donau hinab bis nach Wien schippern. Ein vielleicht romantisches, aber zeitraubendes Abenteuer. Mit der Flößerei ging es bald nach dem Start der Isartalbahn den Bach runter, heute gibt es bekanntlich nur noch Gaudifloßfahrten.

Doch auch die Isartalbahn ist längst Geschichte. 1938 übernahm die Deutsche Reichsbahn die hoch verschuldete Lokalbahn-Aktiengesellschaft. Die Nationalsozialisten benutzten die Bahn auch für ihre Zwecke. Die Munitionsfabrik von Geretsried erhielt ein Anschlussgleis für den Transport, auch auf Höhe der Burg Schwaneck verliefen Gleise zum Sitz des Vorläufers des Bundesnachrichtendienstes, wie Andreas Weigand recherchiert hat. Am 22. Februar 1945 bombardierte die amerikanische Luftwaffe den Bahnhof von Bichl, der ein Umschlagbahnhof für die Geretsrieder Munitionszüge war. Bis zu 30 Menschen starben. Am 29. April 1945 griffen Flieger der Alliierten versehentlich in Beuerberg einen Zug mit 3600 eingepferchten KZ-Häftlingen an. Schon 1943 wurde das Empfangsgebäude des Bahnhofs Thalkirchen bei einem Luftangriff zerstört.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahm die Bahn den Betrieb wieder auf, doch die während der Nazizeit wegen Materialmangels billig zusammengestückelten Eisenbahnschwellen verfaulten zusehends, zudem verlor die Strecke der Isartalbahn in München an Bedeutung. Die Deutsche Bundesbahn litt zudem unter jährlichen Defiziten, in der Folge wurden in den Fünfzigerjahren Nebenstrecken stillgelegt. Das Ende der Isartalbahn begann am 31.Mai 1959, an jenem Tag wurde der Betrieb zwischen Bichl und Beuerberg eingestellt. Genau fünf Jahre später fuhr der letzte Personenzug zwischen Thalkirchen und Isartalbahnhof. Dann folgte der Bau der S-Bahn. Die Trasse nach Wolfratshausen befuhr zunächst die Linie S 10, heute ist es bekanntlich die S 7. Im Jahr 1989 stellte die Bahn schließlich auch den Güterverkehr aus dem Oberland nach Thalkirchen ein, er war überflüssig geworden.

Andreas Weigand hätte sich gewünscht, dass von der Isartalbahn mehr sichtbar geblieben wäre als ein paar sanierte Gebäude und der Isartalbahnradweg zwischen Maria Einsiedel und Ludwigshöhe, den Oberbürgermeister Christian Ude im Sommer 2000 eröffnete. Immerhin soll nun die ehemalige Isartalbahn-Strecke von Wolfratshausen bis zum Jahr 2029 um neun Kilometer nach Geretsried verlängert werden - nach fast 50-jähriger Debatte. Die Betreiber der Isartalbahn hatten für Bau der insgesamt 50,6 Kilometer langen Strecke von Thalkirchen bis nach Bichl seinerzeit nur acht Jahre gebraucht.

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SZ vom 13.06.2019
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