Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Der Tanz an der Haltestelle

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Ein junger Mann und eine junge Frau müssen sieben Minuten auf die nächste Trambahn warten - da beginnen sie, zu tanzen.

Glosse von Stephan Handel

Immer auf Kleinigkeiten achten. Kleinigkeiten sind wichtig in dieser grauen Zeit, sie helfen und halten die Welt zusammen, und wenn er welche entdeckt, dann freut sich der Mensch. Es braucht also gar nicht Weltfrieden und Weltmeisterschaft, um die Leute glücklich zu machen, sondern möglichst oft und möglichst bald herzerwärmende Kleinigkeiten.

So wie dieses Paar, vergangene Woche abends gegen 22 Uhr an der Trambahnhaltestelle Hauptbahnhof. Keine Straßenbahn in Sicht, die Anzeigetafel verspricht, dass frühestens in sieben Minuten eine kommt, Linie 19, Pasing Bf. Der junge Mann und die junge Frau stehen zuerst ein bisschen unschlüssig da, dann wenden sie sich einander zu - und dann tanzen sie. Er hat seine Hände an ihre Hüften gelegt, sie ihre auf seine Schultern, sie geben sich ohne Musik ihrer eigenen Choreographie hin: Vor, vor, vor, dann dreht sie sich, rück, rück, rück, dann dreht sie sich, links, links, links, dann dreht sie sich, rechts, rechts, rechts, dann dreht sie sich.

Es ist keine schwierige Schrittfolge, eher eine für einen sehr niveaulosen Tanzwettbewerb, aber sie üben sie nicht mit Überschwang, sondern mit aller Ernsthaftigkeit. Dass sie keine Tanzschuhe anhaben, sondern diese schwarzen, klobigen Stiefel, die grade alle tragen: egal. Sie tanzen mit der Leichtigkeit von Fred Astaire und Ginger Rogers, sie schweben übers Pflaster und schauen sich dabei in die Augen. Zwischendrin lösen sie den Griff und besprechen - wahrscheinlich -, was noch zu verbessern sei. Dann geht's wieder los: Vor, vor, vor...

Sieben Minuten dauert das private Tanztraining auf dem Bahnsteig, dann kommt die Straßenbahn. Die beiden halten sich an den Händen und steigen gemeinsam ein. Im Zug finden sie zwei Plätze nebeneinander, und als er losfährt, küssen sie sich. Nichts als eine Kleinigkeit - aber auch der Beweis dafür, dass die Welt um sich vergessen kann, wer liebt und miteinander tanzt.

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