Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender für gute Werke:Sehnsucht nach Abwechslung

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Fatima muss nach einer Tumorerkrankung behandelt werden und darf keine anderen Kinder treffen, Alena wünscht sich ein Cello. Doch den Familien fehlt das Geld.

Von Sven Loerzer

Stolz präsentiert das kleine Mädchen seine goldglänzende Medaille. "Tapfer, tapfer!" steht darauf: "Ich war in der Röhre." Die Tapferkeitsmedaille haben ihr die Ärzte im Haunerschen Kinderspital verliehen, weil sie es ganz ohne Betäubungsmittel in der engen Röhre ausgehalten hat. Denn sich diese Untersuchung allein nur vorzustellen, lässt schon viele Erwachsene erschauern. Im Alter von sieben Jahren mit dem Kopf in der Röhre, das bedeutet, dass sie zur Magnetresonanztomographie musste. Und das ist im Vergleich zu dem, was die kleine Fatima seit einem Jahr aushalten muss, noch das Harmloseste.

Begonnen hatte es damit, dass es Fatima immer wieder schwindlig war. "Mama, ich kann nicht laufen. Mein Kopf drückt", sagte die Kleine. "Sie hat jeden Tag gelb gespuckt", erzählt die Mutter. Der Kinderarzt schickt die Familie, die damals noch im Landkreis Rosenheim wohnte, schließlich ins Krankenhaus nach Traunstein. "Dort wurde ein großer Tumor im Gehirn gefunden." Wegen des ernsten Zustands brachte ein Rettungshubschrauber Fatima ins Klinikum Großhadern, wo sie zwölf Stunden lang operiert wurde. Doch der Tumor konnte nur zur Hälfte entfernt werden, zu groß war die Gefahr, sonst das Gehirn zu verletzen. Monate danach wurde ein weiterer Tumor gefunden und eine weitere Operation nötig. Inzwischen verdecken wieder die Haare die beiden langen Narben am Kopf.

Doch seit acht Monaten muss Fatima einmal pro Monat zur Chemotherapie in die Kinderklinik. Meist muss sie eine Woche im Krankenhaus bleiben, um die Nebenwirkungen zu überstehen. Fatima isst dann kaum, wird von Durchfall und Fieber geplagt. "Es ist nicht einfach für sie", sagt die Mutter, "manchmal weint sie und fragt, warum darf ich nicht in die Schule?" Die Chemotherapie schwächt ihr Immunsystem, deshalb darf Fatima die Schule nicht besuchen und keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Sie muss kranke Menschen meiden, kann nicht auf den Spielplatz oder ins Kino. Und wenn sie Fieber bekommt, muss sie möglichst schnell ins Krankenhaus.

All das musste die Familie bis Mitte des Jahres von einem Dorf im Landkreis Rosenheim aus schaffen, bevor sie nach München umziehen konnte. Dank der Unterstützung durch das Jugendamt bekam die Familie eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Eltern schlafen auf der ausziehbaren Couch im Wohnzimmer, Fatima und ihre zwölfjährige Schwester im anderen Zimmer. Die Schwester liebt Fatima und geht jetzt aufs Gymnasium. "Es ist schwer für mich, ihr zu helfen. Ich verstehe vieles nicht", sagt die Mutter. "Aber uns ist wichtig, dass unsere Kinder eine gute Ausbildung bekommen." Der Vater tut sich noch schwerer mit Deutsch, das Jobcenter ermöglicht ihm jetzt einen weiteren Deutschkurs, denn er möchte gerne in einem Restaurant arbeiten.

Die Sorge um Fatima wird weiterhin die nächsten Monate prägen, denn die Chemotherapie läuft noch weitere acht Monate. Bislang ist der Tumor nicht kleiner geworden, "aber auch nicht größer", betont die Mutter. Die Tränen kann sie nur mühsam unterdrücken, die Angst ist allgegenwärtig. Obwohl Fatima unter der Chemotherapie leidet, hält sie durch: "Ich will gesund werden." Am schlimmsten ist für sie, dass sie keinen Kontakt zu anderen Kindern hat. Einzige Gefährten sind ihre beiden Stofftiere, ein Schaf und ein Pandabär, die sie liebevoll verarztet: "Sie haben Fieber." Und wenn sie nicht gerade mit den beiden spielt, dann setzt sie die Tiere aufs Fensterbrett und lässt sie nach draußen blicken, genauso sehnsuchtsvoll, wie sie selbst immer wieder Ausschau hält und sich über jeden Vogel freut, der Abwechslung bringt. "Ich wünsche mir, dass meine Tochter bald gesund ist und in die Schule gehen kann", sagt die Mutter. In der kleinen Wohnung fehlt es noch an Möbeln, wie etwa an einem Kleiderschrank. Und Fatima ersehnt sich nichts so sehr, wie ein bisschen Abwechslung: "Immer zu Hause." Aber um das so zu organisieren, dass dadurch nicht ihre Gesundheit gefährdet wird, fehlt den Eltern das Geld.

Etwa 30 000 Münchner Kinder leben in Familien, die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Die Gründe sind unterschiedlich. Krankheit und Behinderung spielen dabei eine Rolle, oft erfordert die Sorge um die Kinder die ganze Kraft der Eltern. Gesundheitliche Einschränkungen erschweren es Eltern, Arbeit zu finden. Chronische Krankheiten bedeuten oft, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Familien, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind, haben es wegen fehlender Sprachkenntnisse meist besonders schwer, sich zu orientieren und Hilfe zu suchen. Zwar schreibt die vor 30 Jahren verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention gleiche Rechte für alle Kinder weltweit fest, etwa auf Bildung, Freizeit und Spiel.

Aber in der Realität haben nicht einmal alle Kinder in München die gleichen Chancen, obwohl die Stadt wie kaum eine andere viel unternimmt, um für Ausgleich zu sorgen. "Das Leben in München ist trotz oder gerade wegen des erfolgreichen Wachstums deutlich teurer als in anderen deutschen Städten", erklärt Sozialreferentin Dorothee Schiwy. Die staatlichen Leistungen berücksichtigten dies allerdings nur bedingt. Ein Aufwachsen in Armut beeinträchtige die Entwicklung der Kinder sehr. Aus diesem Grund hat der Stadtrat jetzt unter anderem beschlossen, die Sonderzahlung für Schulanfänger um 50 auf 150 Euro zu erhöhen, sowie Kindern in Haushalten mit geringem Einkommen einen Zuschuss von 250 Euro für die Anschaffung eines Laptops zu zahlen, wie er heute in der Schule als selbstverständlich vorausgesetzt wird.

"Ich habe mir sehr, sehr, sehr lange schon gewünscht, Cello zu lernen", erzählt Alena und nickt bedeutungsvoll mit dem Kopf. Für ihre alleinerziehende Mutter war es ein ziemlicher Kraftakt, das zu ermöglichen. Sie bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente, für die Tochter zusätzlich Sozialhilfe. Aus dem staatlichen Bildungs- und Teilhabepaket gibt es seit August statt zehn jetzt 15 Euro monatlich, zum Beispiel für Instrumentalunterricht oder den Sportvereinsbeitrag. Seit Februar nun besucht Alena eine Musikschule und ist begeistert. Das Cello war ihr Wunschinstrument: "Ich wollte auf keinen Fall Geige lernen, das quietscht so. Das Cello am Anfang zwar auch, aber nicht so nervig."

Doch trotz einer Vergünstigung, die an Talent und regelmäßiges Üben gebunden ist, muss die Mutter monatlich rund 50 Euro aufbringen. Und es gibt ja viele andere Ausgaben, nicht nur weil Kinder schnell wachsen. Im Gymnasium sind die Bücher zwar frei, "aber für den Spind bezahlt man, dann sind es hier mal zehn Euro und da mal 20 Euro für Arbeitshefte oder Kopiergeld", erzählt die Mutter. Da wird es eng, obwohl sie günstig einzukaufen versucht, Kleidung auch von Freunden erhält. "Man muss immer aufpassen, dass es am Monatsende noch für das Essen reicht." Sie hat sich als Schulweghelferin ein paar Euro dazu verdient, aber diese Tätigkeit musste sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Das Geld ist knapp, "aber ich möchte nicht, dass man die Armut von außen erkennt".

Alena hat ein Leih-Cello, beim Transport des relativ schweren Instruments mit öffentlichen Verkehrsmitteln hilft ihr die Mutter. Ein eigenes Instrument, "das wäre toll", sagt Alena. Das könnte dann zu Hause bleiben zum Üben, im Unterricht würde sie das Leih-Cello nehmen. Gebraucht wäre ein Instrument schon für etwa 250 Euro zu bekommen, hat Alena sich kundig gemacht. Und vielleicht ein Rucksack dazu, damit es sich besser tragen lässt. Richtig gute Bastelsachen hätte sie gerne, hochwertiges Papier fürs Origami-Falten: "Mir macht es mehr Spaß, etwas zu verschenken, deswegen bin ich auf das Origami-Falten umgestiegen, weil ich nicht so viel habe." Die Mutter verrät, wovon ihre Tochter träumt: von einer Alpaka-Wanderung. Einen Pulli mit Alpaka-Motiv hat sie schon.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2019
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