Süddeutsche Zeitung

Nagerplage:Die "Rattenstraße" von Bogenhausen

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Ein Mann hält gut ein Dutzend Hühner im Vorgarten, füttert Tauben - und hat eine Nagetierplage ausgelöst. Anwohner fühlen sich terrorisiert, doch die Stadt greift bisher nicht durch.

Von Julian Raff, Bogenhausen

Das Problem ist im weiten Umkreis kaum zu überhören: Egal, von welcher Seite man sich dem Grundstück an der Osserstraße beim Regensburger Platz nähert, dauert es selten lange, bis einem der erste kräftige Hahnenschrei entgegenschallt. Sieben kapitale Hähne und mindestens ebenso viele Hennen teilen sich einen kaum wohnzimmergroßen Vorgarten. Die Tiere machen ihrem Dichte-Stress lautstark Luft, bis zu 270 Mal pro Stunde, über den Tag verteilt insgesamt bis zu drei Stunden, wie entnervte Anwohner protokolliert haben. Und doch ist das Gekrähe nur ein Teil des Problems, das seit Jahren Gerichte, Polizei und inzwischen mindestens drei städtische Referate beschäftigt. Eine Lösung ist trotz eindeutiger Rechtsprechung nicht in Sicht.

Von der "Rattenstraße" spreche man schon im Viertel, sagt Andrea Leiber, die direkt gegenüber wohnt. Eine Rattenplage, ausgelöst durch Taubenfütterung und Hühnerhaltung, eventuell auch durch vorsätzliches Füttern der Nager selbst hat sich als Hauptübel herauskristallisiert. Videos vom Grundstück des mutmaßlichen Verursachers zeigen dort Rudel von zwölf bis 15 Ratten. Die geschockten Anwohner beobachten auch Gruppen in Straßen und Vorgärten, die kaum kleiner sind, und das immer weiter entfernt vom Ausgangspunkt.

Nachdem die Nachbarn zunächst auf eigene Rechnung die Ausbreitung der Tiere mit fachgerecht in der Umgebung ausgelegten Giftködern zu bremsen versucht hatten, lässt seit anderthalb Jahren das Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) wöchentlich solche Beköderungsaktionen auf dem Grundstück durchführen. Möglich ist dies nur unter Polizeischutz, da der Eigentümer die Kammerjäger nicht freiwillig auf sein Grundstück lässt und sowohl diese als auch Behördenmitarbeiter und Polizeibeamte regelmäßig wüst beschimpft, bis auf die Straße hinaus hörbar. Einer der beteiligten Hygienekontrolleure hat den Fall inzwischen an Kollegen abgegeben, nachdem er vom Grundstückseigentümer bespuckt worden war.

Dass die Beamten die Ausfälligkeiten ohne rechtliche Gegenwehr hinnähmen, zeigt für den unmittelbaren Nachbarn Günter Titius, dass Verwaltung und Bürger hier, gelinde gesagt, "nicht an einem Strang ziehen". Die RGU-Vertreter weisen dies natürlich von sich und sprechen von Deeskalation, wie sie in der "Eingriffsverwaltung" üblich sei. Man habe es dort ja regelmäßig mit einer sozial schwierigen, oft auch psychisch auffälligen Klientel zu tun.

Massen an Schmeißfliegen gesellten sich im Sommer dazu

Über die Beweggründe des Hühnerhalters kann bei alldem nur spekuliert werden, da er auf Anfragen nicht antwortet. Fest steht, dass er spätestens 2012 begann, auf seinem Grundstück Tauben zu füttern, was eine städtische Satzung verbietet. Neben Körnern und Obst streute und streut der Grundeigentümer, ein 59-jähriger Privatier, der offenbar nur zeitweise selbst auf dem Grundstück wohnt, auch Essensreste wie Kartoffeln, Brot, Speck oder Wurst aus. Zu den Tauben, Mardern, Füchsen, Mäusen und Ratten gesellen sich im Sommer auch Massen an Schmeißfliegen. Fraglich scheint außerdem, ob das Hühnerfutter rattensicher gelagert wird. Die Sache landete vor dem Amtsgericht, wo der Tierhalter zunächst erklären ließ, er füttere lediglich seine 2017 angeschafften Hühner, die Tauben seien ihm zugeflogen.

Die vorläufige Eskalation brachte ein Urteil des Amtsgerichts vom Februar 2019, das den Privatier dazu verpflichtete, "es zu unterlassen, Hühner in der Weise zu halten, dass davon ausgehendes Krähen oder Gackern sowie davon ausgehende Geruchsemissionen auf dem Grundstück des Klägers wahrzunehmen sind". Erfolgreich geklagt hatte Titius als südlicher Nachbar außerdem dagegen, dass der Privatier Laub, vermischt mit Tierkot und Speiseresten, auf seinem Grundstück entsorgte. Dem Beklagten schwoll daraufhin derart der Kamm an, dass er seinem Nachbarn per Brief mit Brandstiftung drohte und 10 000 Euro als "Wiedergutmachung" forderte. Eine strafrechtliche Verurteilung wegen versuchter räuberischer Erpressung folgte und fiel mit sieben Monaten auf Bewährung und 3000 Euro Geldstrafe relativ mild aus, da der Angeklagte die Tat zugab und auf eine psychische Ausnahmesituation unter Alkoholeinfluss zurückführte.

Die Geldstrafe zahlte der vermutlich durch eine Erbschaft finanziell unabhängige Bogenhauser - ebenso wie Ordnungsgelder über insgesamt 16 200 Euro, die das Amtsgericht wegen der anhaltenden Taubenfütterung verhängt hatte. Ein weiteres Ordnungsgeld von 12 000 Euro hat das Amtsgericht außerdem Mitte September wegen der Hühnerhaltung verhängt, aber bisher noch nicht eingetrieben. Derzeit läuft ein Mahnverfahren. Falls die Hähne ungedämpft weiter krähen, kann das Gericht maximal ein Ordnungsgeld bis zu 250 000 Euro verhängen oder ersatzweise sechs Monate Ordnungshaft.

Vorerst nutzt dies den Nachbarn wenig. Die rein zivilrechtliche, gegen Lärm und Gestank gerichtete Sanktion liefert den Stadtbehörden keine Handhabe, die Tiere selbst entfernen zu lassen, auch wenn inzwischen sowohl das RGU als auch das Veterinäramt im Kreisverwaltungsreferat (KVR) einräumen, dass die Hühnerhaltung das durch die Taubenfütterung bereits vorhandene Rattenproblem verstärkt und ein öffentlich-rechtlich gedeckter Eingriff zur Abwehr der Infektionsgefahr gerechtfertigt wäre. Zur großen Verärgerung der Nachbarn schieben die beiden Behörden die Sache bisher ergebnislos herum.

Die Anwohner bereiten eine Schadenersatzklage vor

Im RGU sähe man Hähne und Hühner am liebsten entfernt, weist die Verantwortung für den Vollzug aber im Anwohnergespräch und auch gegenüber der SZ dem Veterinäramt/KVR zu. Dieses wiederum sieht sich nur für die Bekämpfung von Tierseuchen zuständig und verweist die Sache in einem Schreiben vom 21. Oktober zurück ans RGU. Fürs Tierwohl, sprich für die Frage, ob rund 30 Quadratmeter für eine derart große Hühnerschar überhaupt ausreichen, ist wiederum die Lokalbaukommission zuständig. KVR-Sprecher Johannes Mayer widerspricht dem Eindruck eines fruchtlosen Behörden-Pingpongs: "Die zuständigen Fachabteilungen von KVR und RGU stehen dazu im Austausch", versichert er. Außerdem "werden weitere Maßnahmen folgen". Genauere Auskünfte erlaube der Datenschutz leider nicht.

Die teuren und nervenzehrenden Beköderungen laufen jedenfalls aus Anwohnersicht ins Leere, da sie mit der Vermehrung der Tiere nicht Schritt halten können. Er habe binnen einer Woche vier tote Ratten aufwendig als Sondermüll entsorgt und sehe dennoch immer mehr lebende Tiere, berichtet Nachbar Werner Michel. Nicht nur er vermutet außerdem, dass die regelrecht "gemästeten" Nager die Köderboxen inzwischen immer öfter verschmähen.

Die Anwohner bereiten nun eine Schadenersatzklage wegen 30-prozentiger Wertminderung ihrer Grundstücke vor. Außerdem haben sie sich in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) gewandt, in dem sie darauf dringen, ihrem Nachbarn dessen "Terrorspielzeug zu entziehen". Weiter heißt es dort: "Es kann nicht sein, dass sich die Stadtverwaltung damit beschäftigt, Infektionen durch Covid-19 zu vermeiden und die Ausbreitung von Krankheiten, die durch Ratten übertragen werden, hinnimmt."

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Quelle:
SZ vom 11.11.2020
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