Süddeutsche Zeitung

Obdachlosigkeit und Corona:Mehr Menschen, mehr Flaschen

Lesezeit: 6 min

Bernhard Nöhren lebt auf der Straße und sammelt Pfand. Während im Lockdown alle zuhause waren, schlief er neben einer Baustelle. Jetzt soll er immerhin die Impfung bekommen. Alles gut also?

Von Julia Huber

Vielleicht geht der ganze Mist ja hier und heute zu Ende. Mit einem Piks. Also los. Bernhard Nöhren steht in der Schlange vor der Münchner Bahnhofsmission, wo es heute nicht nur Kaffee, Brote und Beratung gibt, sondern auch Impfungen von Johnson & Johnson. Vorhin hat er einen zwei Meter großen Mann herauswanken gesehen, der nach der Spritze ganz blass und wacklig war. "Den Zwei-Meter-Hünen hat's umgehauen", sagt Bernhard Nöhren, wie soll das erst bei ihm werden? Nöhren, 49, ist schlank, deutlich unter zwei Meter, und hat schon drei Bier getrunken. Aber seine Faustregel ist: Niemals Angst zeigen. Erst recht nicht vor einem Pikser.

Bernhard Nöhren ist obdachlos, "ich bin draußen", sagt er. Das vergangene Jahr war ziemlich hart für ihn. Als im Winter alle drinnen bleiben sollten, blieb er mit drei anderen in einer Nische neben der Karstadt-Sport-Baustelle am Stachus. Die Fußgängerzone war leer. Der Saturn-Elektromarkt, wo Bernhard Nöhren immer die Toilette benutzt, war zu. Fünfmal wurde er beim Pinkeln erwischt, sagt er, macht 750 Euro Bußgeld, aber bei ihm gibt es eh nichts zu pfänden. Er lebt von Hartz 4, hat ein P-Konto. Nöhren verdient sich was als Flaschensammler dazu. Zuletzt bedeutete das: Wenige Flaschen und immer mehr Konkurrenten. Er hat gezählt, allein in der Fußgängerzone sind inzwischen 60 bis 70 von ihnen unterwegs.

Wenn es stimmt, was Karl Lauterbach sagt, dass der Sommer gut wird, dann müsste Bernhard Nöhren das ja als einer der Ersten bemerken. Denn eine Party kommt immer mit Pfandflaschen. Wenn die Münchnerinnen und Münchner laue Sommerabende im Englischen Garten verbringen mit Bier oder Spezi, dann hat auch Bernhard Nöhren was davon. Je mehr Menschen, desto mehr Flaschen.

Er hat schon öfter erlebt, wie es ist, wenn München eine Dauerparty feiert. Zum ersten Mal 2018. Das Jahr, als der Sommer schon im April kam und erst im September ging. In München gab es Veranstaltungen ohne Ende. Open-Air-Kino, Konzerte, WM Public Viewing. Danach das Oktoberfest. Bernhard Nöhren stellte sich mit einem Einkaufswagen mitten rein in die gute Stimmung. Er stand oben an der Treppe zur Theresienwiese, und die Leute füllten seinen Wagen mit den Pfandflaschen, die sie auf dem Hinweg ausgetrunken hatten. Nöhrens Schicht begann um fünf Uhr morgens, wenn die Jungen sich vor den Zelten anstellten, und ging bis abends, wenn ein paar Spätentschlossene noch eine Runde über die Wiesn spazierten.

Er war immer viel unterwegs. Geboren wurde er in Neuburg an der Donau, er arbeitete in Andechs, in Abensberg, Ingolstadt, Augsburg, Miesbach und Speyer. In allen möglichen Jobs. Er bügelte, räumte Bierkrüge ab, wischte Turnhallen. Er trat sogar in der Geisterbahn auf - mit seinem dunklen Lachen und laufender Kettensäge. Aber am Ende war keine Arbeit die richtige für ihn. Dann kam das Trinken und als das immer mehr wurde, verlor er seine letzte Wohnung. Seit 2016 ist er also draußen, und immer mal wieder woanders.

Als er vergangenes Jahr im Mai nicht wusste, wohin, fuhr er zurück nach München, wo er 2018 den schönen Sommer erlebt hatte. Es enttäuschte ihn, dass zum zweiten Mal die Wiesn abgesagt wurde. Der wichtigste Termin seines Jahres.

In der Schlange vor der Bahnhofsmission stehen noch einige vor ihm, die auch auf die Impfung warten. Da ist ein Mann mit langen grauen Haaren und Bart, dem Bernhard Nöhren gleich mal ein Kompliment macht: "Deine Frisur und der Bart erst - das ist richtig geil." Da ist der Blonde, der vor sich hin schimpft. Da sind die beiden Frauen, Narben am Arm, Schürfwunde im Gesicht, die erzählen, sie wollen die Impfung, weil sie dann Vorteile gegenüber Ungeimpften hätten. Außerdem finden sie es gut, dass sie Johnson & Johnson bekommen, weil das nur einmal gespritzt werden muss und die meisten Leute hätten unangenehme Impfreaktionen ja erst bei der zweiten Corona-Impfung.

Als im Mai die ersten Impfdosen von Johnson & Johnson geliefert wurden, reservierte die Stadt München sie für Obdachlose. Für Menschen, die sich nicht einfach zuhause schützen können, im Home-Office, und von denen keiner genau weiß, ob man sie für einen zweiten Impftermin erreichen würde. Manche haben kein Handy, keine feste Postadresse, viele beschäftigen sich tagsüber mit der Frage, wo sie heute Nacht schlafen - wann sie ihren Sticker im Impfpass bekommen, wirkt da eher nebensächlich.

Bernhard Nöhren hat chronische Bronchitis, Angst vor Corona hat er nicht. Warum? Draußen ist das Infektionsrisiko geringer, so einfach. Trotzdem ist er heute zur Impfung gekommen. Seine Sozialarbeiterin riet ihm dazu. Er hat sogar seinen neuen Impfpass mitgebracht. Seine Papiere hat er alle in einer Bauchtasche, die ihm über der Schulter baumelt. Seine anderen Sachen versteckt er tagsüber in einem Müllsack im Gebüsch. Nachts schläft er mit dem Kopf darauf. Trotzdem ist ihm im Winter alles geklaut worden. In einer der Nächte neben der Baustelle wachte er auf, weil sein Nacken wehtat. Da merkte er, dass der Rucksack unter seinem Kopf verschwunden war. Sein alter Impfpass, sein Staplerführerschein, sein Geldbeutel mit zehn Euro drin - alles weg.

Er ist inzwischen umgezogen. Zurzeit schläft er in der Nähe des japanischen Teehauses im Englischen Garten. Morgens gegen sechs Uhr wecken ihn die Sportler auf, die zu zwanzigst bei ihm vorbeijoggen. Er steht dann auf, macht sich auf den Weg. Essen holen in einer der Anlaufstellen. Bernhard Nöhren sagt, wer in München auf der Straße lebt und hungert, müsse bescheuert sein. Es gebe so viele Stellen, die Essen verteilen. Erst letzte Woche hat er eine neue Stelle entdeckt.

Ganz am Anfang aß er noch Lebensmittel, die er im Müll fand. Auch daran, was die Leute wegwerfen, erkennt man ja, wie gut es den Menschen einer Stadt geht. Einmal fand er einen Hamburger, noch warm, nur einmal angebissen. Ein anderes Mal eine Fanta, ungeöffnet. Oder eine ganze Packung Tabak. Außerdem gab es diese unerwarteten Begegnungen. An Weihnachten kam eine Frau zu Bernhard Nöhren und drückte ihm einen Hunderter in die Hand. Polizisten brachten Plätzchen vorbei. Im Nußbaumpark suchte er gerade Flaschen, als jemand "Stopp" schrie und ihm einen Fünfziger schenkte. Nöhren glaubt, dass die Leute es ganz gut finden, dass er Flaschen sammelt und nicht bettelt.

Er ist jetzt ganz vorne in der Schlange. Dann darf er rein in die Bahnhofsmission, wo ein Büro zum Impfzimmer umfunktioniert wurde. Gleich kommt der große Moment. Bernhard Nöhren trödelt ein bisschen. "Griaß eich, servus", sagt er zum Impfteam. Dann zeigt er allen seine Tätowierung am linken Arm und erklärt, warum er die Impfung bitte da nicht haben möchte. Nicht, dass sein Tattoo kaputtgeht. Der Arzt nickt, will das Vorgespräch abschließen. "Allllles mit der Ruhe", sagt Bernhard Nöhren, aber dann geht es doch schnell. "Den Arm einfach hängen lassen", sagt der Arzt, und schon ist Bernhard Nöhren geimpft.

Es haut ihn nicht um. 15 Minuten sitzt er auf einem Stuhl in der Bahnhofsmission. "Ich spür das schon gar nimmer", sagt er. Ein Held nach einem Sieg. Dem bärtigen Grauhaarigen geht es anders. Bedröppelt sitzt er gegenüber und erzählt, dass die Impfung wehgetan habe.

Bernhard Nöhren ist in Feierlaune. Die Sonne knallt auf den Hauptbahnhof, alle paar Minuten wirft jemand Flaschen in die Mülleimer. Alle paar Minuten kommen Flaschensammler und fischen sie wieder raus. Aber Nöhren macht gerade Pause und schaut zu. Er sieht eine Bekannte, die lauter Plastiktüten an einem ausrangierten Kinderwagen befestigt hat. Jede Tüte für eine andere Pfand-Gruppe, Plastik, Dosen und Glas, jeweils sortiert nach Höhe des Pfands, "geniales System", sagt er. Er wirft alles Pfand in dieselbe Plastiktasche, die er regelmäßig auswäscht.

Danach kommt ein weißhaariger Mann, gebügeltes Kurzarmhemd, Uhr am Handgelenk, und klaubt eine Dose vom Boden auf. Es sind jetzt immer mehr Rentner unter den Flaschensammlern, sagt Nöhren. Viele hätten ihr ganzes Leben gearbeitet, aber München sei zu teuer geworden.

Und dann entdeckt er einen Anfänger. Ein junger Mann stochert mit einem Stock im Mülleimer herum. Er übersieht eine Sektdose, die eine Frau erst vor zehn Sekunden reingeworfen hat. "Hat der die nicht gesehen?" Nöhren geht selbst hin, holt die rosa Dose raus, 25 Cent Pfand. Beste Kategorie.

Als er anfing, lief auch nicht alles perfekt. Flaschensammeln bedeutet immer, in Mülleimer zu greifen. Nöhren schämte sich damals, schaute sich dreimal um, ob ihn keiner sieht. Er nahm Flaschen mit, die kein Pfand brachten. Anfängerfehler. Inzwischen ist er Profi. Seine Taktik geht so: Er taucht den ganzen Arm in den Mülleimer, rührt einmal um, die meisten Flaschen sind ganz unten. Er hat immer Tempos oder Feuchttücher dabei, falls er beim Umrühren Mayo oder Ketchup erwischt.

In den letzten Wochen merkte er, wie die Stimmung der Stadt stieg. Wenn es nicht regnet, ist im Englischen Garten fast immer Party. Die jungen Münchner schleppen Bierkästen an den Eisbach. Es stört ihn nicht, im Gegenteil. Auch in der Innenstadt ist wieder mehr los. Also auch da mehr Flaschen. Bernhard Nöhren sagt, wenn alles überstanden ist und er mal richtig viel gesammelt hat, kauft er sich eine Tageskarte für die Erdinger Therme. Da dümpelt er dann einen ganzen Tag im Wasser und erholt sich von dem Stress.

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SZ vom 26.06.2021
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