Süddeutsche Zeitung

Kultur in Neuhausen:Briefe an die Zukunft

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Drei Jahre lang war es möglich, Nachrichten an die Nachwelt in einen Briefkasten an der Paketposthalle zu werfen. Sie landeten im Untergrund und werden später Zeugnis ablegen von den Wünschen der heutigen Generation.

Von Sonja Niesmann

Der Weg in die Zukunft ist versperrt. Dieser Weg jedenfalls. "Briefkasten ist geschlossen" steht schnöde auf der gelben Box, der Einwurfschlitz ist verriegelt. Was nicht zu sehen ist: In viereinhalb Metern Tiefe unter diesem Briefkasten liegen in einem alten Luftschutzbunker einige Dutzend Briefe, frischevakuumverpackt, die eine Zeitreise angetreten haben. Botschaften der heutigen Generation an die Nachwelt, die vielleicht mal jemand entdecken und lesen wird.

"Briefe an die Zukunft": 2012 haben der Neuhauser Bezirksausschuss und die Deutsche Post damit eine "Zeitkapsel"-Idee des Architekten-Ehepaars Christiane Tiefel-Wagner und Rainer Wagner aufgegriffen. Eigentlich hätten die Stadtteilpolitiker den alten Bunker, der zur Tiefgarage des ehemaligen Postamtes 3 gehörte, gerne als Kunst- oder Erinnerungsort genutzt; darauf ließ sich allerdings die Post nicht ein, der Zugang ist auch längst zugeschüttet. Also wurde eine andere Passage für Erinnerungen geöffnet, der leuchtendgelbe Postkasten hier an der Ecke Wilhelm-Hale-Straße/Birketweg, mit der imposanten Paketposthalle im Hintergrund.

Ehe die Briefe unwiederbringlich durch ein Metallrohr fielen und vom Bunker verschlungen wurden, landeten sie in einem Sack, aus dem Postmitarbeiter sie noch einmal herausholten und in Folie einschweißten, damit das Papier nicht verrottet. Einen "Brief an die Zukunft"-Sonderstempel bekamen sie auch. Geschenkt gab's die Kontaktaufnahme mit der Zukunft freilich nicht, die Absender mussten ihre Botschaften korrekt mit einer 55-Cent-Briefmarke frankieren.

Den ersten Brief warf damals, Mitte Oktober 2012, der inzwischen verstorbene Roland Zintl von den Grünen ein, der den Unterausschuss Kultur des Bezirksausschusses geleitet hat. Nicht von der Gegenwart aber erzählte er auf anderthalb Seiten, wie er verriet, sondern schilderte, wie er sich die Stadt in 100 Jahren vorstellte: saubere Luft, lautloser Verkehr, die Tunnels am Mittleren Ring nur noch kulturell genutzt.

Zu Zintls Brief gesellten sich im ersten Jahr etwa 50 weitere Briefe in die Zukunft, viele von Schulklassen. "Schön gestaltete Umschläge, mit Zeichnungen und so", weiß Jürgen Roth von der Deutschen Post. Er war bei der Eröffnung dieses ungewöhnlichen Briefkastens selbst dabei, malte sich begeistert aus, wie Menschen irgendwann einmal den Boden dort aufgraben und nicht etwa Knöchelchen oder Tonscherben finden oder eine historische Abortanlage, wie sie damals gerade am Marienhof ans Licht kam, sondern lauter Briefe. Ja, und auch ein Exemplar der Post-Betriebszeitung. Roth verstand sich als Zukunfts-Sonderbeauftragter, ging höchstpersönlich alle paar Tage hin, holte die eingetroffenen Sendungen heraus, drückte die Stempel auf. "Ich wollt' einmal in meinem Postler-Leben etwas komplett machen, von der Leerung bis zum Abstempeln", scherzt er. Und gibt zu, dass er zu gerne auch mal reingespitzt hätte in die Umschläge.

Offensichtlich geriet die Passage in die Zukunft aber schnell wieder in Vergessenheit, im Jahr darauf seien nur noch "wenige Sendungen" im Bunker gelandet, sagt Roth, im dritten Jahr habe niemand mehr die Nachwelt grüßen wollen. Immer wieder aber fanden sich Irrläufer im Postsack, echte Briefe in die Gegenwart, die ihren Empfängern zugestellt werden mussten. Er habe das von Anfang an befürchtet, merkt Postsprecher Dieter Nawrath an, dass Menschen nicht so genau hinschauen beim Einwerfen, nur gelb sehen sozusagen, das "Kunstprojekt"-Schild am Zaun über dem Briefkasten gar nicht registrieren.

Um sich weitere regelmäßige Kontrollen und Leerungen dieses speziellen Briefkastens zu ersparen, machte ihn die Post schließlich dicht, Anfang 2015 wohl, sicher weiß Roth es nicht mehr. Im Alleingang. Eine offizielle Mitteilung an den Bezirksausschuss gab es nicht. Er habe es "der Frau Staudenmeyer mal erzählt", als er sie getroffen habe, erinnert sich Jürgen Roth. Ingeborg Staudenmeyer war da freilich gar nicht mehr die Vorsitzende des Gremiums, sondern Anna Hanusch.

Den Briefkasten einfach abzubauen hielt Roth für keine gute Lösung, dann stünde ja das in den Bunker führende Metallrohr frei in der Gegend rum. Inzwischen gehört das Gelände auch gar nicht mehr der Deutschen Post, sie hat es verkauft an den Investor Ralf Büschl, der ehrgeizige Pläne auf dem Areal realisieren will: zwei 100-Meter-Hochhäuser, Wohngebäude drumherum, die Paketposthalle als öffentliche Begegnungsstätte. Ob der Blick da überhaupt auf einen kleinen, gelben Kasten fällt, der sich ganz an den Rand des Areals duckt?

Auf der Erklärtafel am Zaun ist zu lesen, dass dieser "unbegrenzte, sichere Hort für ein persönliches Vermächtnis an eine Generation in ferner Zukunft" im künftigen Grünzug Hauptbahnhof-Laim-Pasing liegt. Also wird wohl einfach Gras über die ganze Sache wachsen.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2020
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