Süddeutsche Zeitung

München:Luckys kleine Freiheit

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Im Riemer Tierheim geben ehrenamtliche Gassigeher den Hunden eine Perspektive: täglich Ausgang, zumindest für eine Stunde

Von Nicole Graner

Lucky ist glücklich. Auf der großen Wiese neben dem Tierheim an der Brukenthalstraße wälzt sich der zweijährige American Staffordshire Terrier genüsslich auf dem ersten Grün. Und er schnuffelt. Intensiv und lange. Diese eine Stunde gehört ihm, bevor er wieder in sein Freilaufgehege ins Tierheim muss. Er genießt sie. Manchmal bliebt er einfach stehen und hält seine Schnauze in die Luft: Freiheit schnuppern. Lucky hat Glück, dass er einen Gassigeher hat, den er für 60 Minuten jeden Tag zu seinem Herrchen macht.

Claus Wennrich ist einer von ungefähr 100 ehrenamtlichen Gassigehern, die sich um die Hunde im Riemer Tierheim kümmern. Jeden Tag von neun bis zwölf Uhr kommt er von Unterföhring und geht mit drei Tieren spazieren, schenkt jedem für eine Stunde Normalität. Wennrich liebt Lucky. Die Begrüßung der beiden ist still, gewohnt und vertraut. Der 72-jährige Rentner, bekleidet mit einer schwarzen Tierheimweste, auf die mit gelben Garn Hund, Katze und Hase gestickt sind, streichelt den Kopf des Hundes, und der Rüde reibt ihn sofort liebvoll an seinem Bein. Lucky muss einen Maulkorb tragen. "Ich komme gut mit ihm aus", sagt der Gassigeher. Beim Spaziergang sei er ein prima Kerl, aber er könne auch anders, Wennrich spricht von zwei Gesichtern. 100 Hunde leben derzeit im Tierheim. Werden betreut, verpflegt. Viele Pfleger und acht Hundetrainer sind im Einsatz, um ihr Leben im Zwinger so gut zu gestalten wie möglich. Ihrem Schicksal gerecht zu werden. Ängste abzubauen. Sie zu trainieren, damit sie auch wieder vermittelbar sein können.

Hans Brings ist einer von den acht Trainern. Seit 20 Jahren ist er im Tierheim tätig, seit 25 Jahren Hundetrainer. Er koordiniert die Arbeit an den Hunden und leitet die Hundeschule des Tierheims. Den Service, dass Menschen mit den Hunden aus dem Tierheim Gassi gehen, gibt es schon länger. Doch Brings wollte neue Gassigeher gewinnen und, ganz wichtig, eine kleine Ausbildung für sie. Denn manchmal passierten bei den Spaziergängen eben doch kleine "Unfälle", die Hunde sprangen Menschen an oder bellten. "Wir wollten diese Situation verbessern, den Gassigehern mehr Sicherheit vermitteln", sagt Brings. Die Idee für ein Seminar war geboren und die eines Gassigeher-Ausweises.

Drei Stunden an einem Samstag. Das ist die Basis. Eineinhalb Stunden Theorie und eineinhalb Stunden Praxis. In dieser kurzen Zeit lernen die Teilnehmer viel. Zuerst einmal, warum die Hunde überhaupt in das Tierheim gekommen sind, welche Körpersprache sie verstehen. Es geht im praktischen Teil vor allem um die Leinenführung. Denn beim Spazierengehen sind die Hunde immer an der Leine zu führen. Mit einer "dualen Leinenführung", wie Brings sagt. Dafür hängt die Leine zur besseren und kontrollierteren Führung sowohl am Halsband, wie auch am Geschirr. Hunde mit Fluchttrieb bekämen ein eigenes Panikgeschirr, aus dem sie nicht entwischen können, weil es einen zusätzlichen Hüftgurt hat, erklärt der Trainer. Und noch etwas ist dem 53-Jährigen wichtig: Dass die Gassigeher sich selbst gut einschätzen lernen. "Es ist ganz wichtig zu sagen, mit diesem Hund kann ich es nicht, er ist mir zu groß, oder der zerrt mir zu sehr an der Leine", sagt Brings. Dann würden dem Gassigeher andere Hunde zugeteilt. Respekt vor dem Tier, das ist für Brings wichtig. "Der Hund sitzt 23 Stunden im Zwinger. Die eine Stunde Gassigang ist seine Zeit. Und da können die Spaziergänger nicht mal eben mit dem Handy telefonieren. Sie sollen sich auf den Hund konzentrieren."

Lucky und Claus Wennrich sind ein gutes Team. Ganz locker hält der Rentner die Leine und gibt leise seine Befehle wie "Warte!" oder "Stopp!". Lucky macht alles ganz brav, schaut seinen Gassipartner immer wieder aufmerksam an. Und natürlich telefoniert der aktive Rentner nicht, wenn er, außer am Donnerstag, jeden Tag mit Lucky unterwegs ist. Der Seminarbesuch habe auf jeden Fall etwas gebracht, vor allem sei es für ihn interessant gewesen, zu lernen, wie die Hunde reagieren. Den Schein habe er nicht immer dabei. Wozu? Weit könne man in einer Stunde eh nicht gehen. Schon lange ist er als Gassigeher dabei. Den Anfang habe seine Frau Erika gemacht, dann sei er 2008 dazugestoßen. Warum er das macht? "Na, von Nordic-Walking-Stöcken kommt nichts zurück, aber von einem Hund schon." Der 72-Jährige, der als Ingenieur bei Siemens gearbeitet hat, liebt diese Form der Selbstdisziplin. "Man muss raus, bei jedem Wetter." Er kennt es nicht anders. Elf Jahre ist der Tierliebhaber auch noch mit dem eigenen Hund rausgegangen. Vergangenes Jahr ist sein geliebter Hund gestorben.

Die Seminare haben großen Anklang gefunden. An die 100 aktive Gassigeher sind es. Der älteste ist 95 Jahre alt. Wegen Corona kommen im Moment weniger. Die, die rausgehen, müssen sich vieler Hunde annehmen. Jeder wird jetzt gebraucht! Jeder Gassigeher bringt im Moment seine eigene Leine mit, die beim Abholen mit der Tierheim-Leine getauscht wird. An die 1000 Gassigeher haben Brings und seine Trainer in ihren Seminaren bereits fit gemacht. Die Bilanz: eine sehr gute Idee.

Von neun bis zwölf Uhr: Vor dem Tierheim ist ein Kommen und Gehen. Hunde werden geholt und wieder gebracht. Und immer das gleiche Bild: Freude bei beiden. Die Beziehung zwischen Hund und Gassigeher ist eng. Doch wenn der Hund vermittelt werden kann, ist, so sagt Brings, die Freude beim Ersatzherrchen groß, dass er ein Zuhause gefunden hat. Aber dennoch kommt es vor, dass Gassigeher den einen oder anderen Tierheim-Hund wollen. "Dann suchen wir zusammen den richtigen. Das ist wichtig", sagt Brings.

Lucky scheint, wie Wennrich erzählt, durchaus ein Rabauke zu sein. Und er berichtet von einem anderen Hund, im Freilauf-Zwinger. Der sei mit seinem Herrchen auf der Flucht gewesen. Die Polizei, so vermutet er, hat den Mann geschnappt. Der Hund landete im Tierheim. Und es gibt Tiere hier, die Gewalt erfahren haben. Aber die meisten seien, wie Hans Brings erzählt, einfach mangel- und fehlsozialisiert. Man hole sich die Tiere vom Züchter. Aber wie wurde der Hund da betreut? Und kann der Besitzer dann mit Fehlverhalten und Ängsten des Hundes umgehen?

Wenn es nicht klappt, landet der Hund im Tierheim. Und dann nähmen die Käufe von Tieren im Internet, wie Brings traurig konstatiert, immer mehr zu. "Da gibt es viel zu viel schwarze Schafe", sagt er. Die Hunde werden angepriesen, an der Autobahn übergeben. Und wenn der "Kuschelbär" plötzlich aggressiv werde, komme er ins Tierheim. Viel, sehr viel Arbeit ist dann nötig, um die Tiere zu sozialisieren, damit sie vermittelt werden können. Dieser Arbeit widmet sich Brings mit Leidenschaft. Oft rund um die Uhr. Einen eigenen Hund hat er im Moment nicht. "Ich hab ja 100", sagt er und deutet auf die Zwinger. "Einem eigenen würde ich gerade nicht gerecht werden." Aber vorstellen kann er es sich, irgendwann einen alten Hund vom Tierheim zu holen. Denn die hätten nie eine Chance, in ein neues Zuhause zu kommen.

Lucky ist ein Listenhund, also einer, der in Deutschland als "potenziell gefährlich" gilt, und für den der Halter eine besondere Erlaubnis benötigt. Er wurde abgegeben, "weil die Besitzerin in Bayern lebte und sie ihn nicht halten darf", sagt Claus Reichinger, zweiter Vorsitzender des Tierschutzvereins München. Claus Wennrich ist das egal. Mit Lucky ist gut Gassi gehen, da würden andere viel "anstrengender sein", viel mehr an der Leine ziehen und zerren.

Die Stunde ist vorbei. Wennrich bringt Lucky zurück. Eine Pflegerin nimmt den Hund entgegen. Und weg ist Lucky. Zurück im Zwinger. "Naja", sagt Wennrich, und dreht sich noch einmal nach ihm um, "morgen komme ich ja wieder!"

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Quelle:
SZ vom 18.04.2020
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