Süddeutsche Zeitung

Genderdebatte:Das Suffix an der Waage

Lesezeit: 3 min

Die Künste streiten über Gender­gerechtigkeit. Autoren und Musiker wie DJ Hell, Ronya Othmann, Jovana Reisinger, Mira Mann und Nele Pollatschek gehen längst eigene Wege.

Von Stefan Sommer

Wer streitet sich, wenn Künstler streiten? Frauen? Transmenschen? Oder streiten in unseren Köpfen Männer mit Männern? Will ein Text alle Kunstschaffenden meinen, muss er vor dem ersten Wort im grammatikalischen Grabenkampf Position beziehen: Künstler? Künstler und Künstlerinnen? Künstler*Innen? Künstler:Innen? Konservative prophezeien den Verfall der deutschen Sprache, wenn Sternchen und Doppelpunkte Worte teilen. Progressive wittern Ewiggestrigkeit, wenn die fehlen. Der identitätspolitische Dauerzwist zwischen vorwärts und rückwärts tobt im deutschen Suffix. Und dass aktuell nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der Kunst. Wie gendern Kunstschaffende in Songtexten? Romanen? Filmen?

"Ich stolpere über nicht gegenderte Texte", sagt die Münchner Filmemacherin und Schriftstellerin Jovana Reisinger. In ihrer letzten Menstruations-Kolumne "Bleeding Love" gendert sie mit Doppelpunkt. Also: Künstler:Innen. In Reisingers literarischen Arbeiten hingegen gendern nicht alle Figuren. In ihren Erzählungen und Kurzfilmen nutzt sie das als Stilmittel. "In Prosa und in Drehbüchern gilt es erst herauszufinden, wie die Figuren sprechen, oder wie ich möchte, dass sie sprechen", erklärt sie. "Nicht Gendern bedeutet auch etwas." Reisingers neuer Roman heißt "Spitzenreiterinnen".

Gendern oder nicht? Filmemacherin und Autorin Jovana Reisinger stolpert über nicht gegenderte Texte.

Für DJ Hell ist eine gendergerechte Sprache Sache des Dudens.

Musikerin und Autorin Mira Mann fordert einen wilden Diskurs.

Für die Autorin Ronya Othmann, die 2019 den Publikumspreis in Klagenfurt gewann, sollte das Gendern in der Kunst keine Pflicht sein. Wie viele Verlage, die aktuell mit dem expliziten Einverständnis der Schreibenden gendern, will auch Ronya Othmann die Sprache in der Literatur nicht standardisieren. Sie sagt: "Gendern gehört zu den Figuren - oder nicht. Figuren können Feministin sein - oder nicht." In ihrer FAS-Kolumne "Import Export" nutzt sie meistens das Sternchen. Also: Künstler*Innen. Der hochgestellte Asterisk, wie das Satzzeichen auch heißt, kommt aus der Programmierersprache. Wie der Doppelpunkt markiert auch das * im Wort, dass nicht nur Frau und Mann gemeint sind. Für Othmann ist das so "normal, wie nach einem Punkt mit einem Großbuchstaben weiterschreiben".

Und die alten, weißen Musiker? Für Sepalot, den Produzenten und Mitbegründer der Münchner Hip-Hop-Crew Blumentopf, gehört diese Frage zur Kunst und in der Kunst verhandelt. Kunst sei für ihn der Ort, wo die großen gesellschaftlichen Umwälzungen besprochen werden, auch wenn die Kunst nicht immer eine Antwort haben könne. "Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ihr Sprachverhalten total geändert haben", sagt er, "aber, wenn ich merke, jemand fühlt sich mit meiner Wortwahl unwohl, ändere ich sie. Und ich ändere sie dann sehr gerne." Auch im deutschen Hip-Hop sieht Sepalot erste Zeichen einer Veränderung: "Der vorwiegende Männertypus im Rap ist nicht der Männertypus, der sich mit diesen Themen beschäftigt. Da tut sich aber was! Female-MCs machen von sich reden und die bringen das Thema Gendern in die Musik."

Und die elektronische Musik? DJ Hell verhandelt Fragen von Geschlecht und Identität in anderen Sphären. "Die Kunst ist ein Ort an dem sich Raum und Zeit auflösen", erläutert er, "meine Musik vereinigt alle Formen der Emanzipation und formt das unterschwellig zu einer Substanz, die weiblich und männlich im Geist vereint". Im Alltag achte er darauf, die neuen sprachlichen Möglichkeiten einzubeziehen, um niemanden zu verletzten. Was früher umständlich klang, so DJ Hell, käme nach und nach auch in seinem Alltag an. Für ihn sei eine gendergerechte Sprache in Deutschland aber Sache des Dudens, der Anfang des Jahres den Status des generischen Maskulinum abschwächte. Der Duden führt nun Künstler und Künstlerinnen.

Nele Pollatschek bezeichnet sich aber trotzdem weiterhin als Schriftsteller, explizit nicht als Schriftstellerin. 2018 promovierte sie in Oxford, wo man die Diskussion um gendergerechte Sprache anders führt: Während man im deutschen Sprachraum versuche, mit dem Suffix "-Innen" das biologische Geschlecht zu betonen, so Pollatschek, mache man in England mit Neutralisierung das Gegenteil, das Geschlecht irrelevant. Die "Actress", die weibliche Form des "Actors", des Schauspielers, gelte auf der Insel heutzutage als sexistisch. Selbst liberale Tageszeitungen verfahren so. Pollatschek erzählt: "Ich wurde von einem Professor gefragt, ob die Feministen in Deutschland nichts dagegen machen, dass Angela Merkel als 'Bundeskanzlerin' bezeichnet wird."

Pollatschek will eine gerechtere Gesellschaft für alle. Für sie ist das Argument, Gendern würde die Sprache hässlicher machen, grundfalsch. "Das ist, als würde man einen Ertrinkenden nicht retten, weil das so hässliche Flecken auf dem Bootslack gib", so Pollatschek. Die Autorin von "Dear Oxbridge" warnt aber davor, dass sich Unternehmen mit Sternchen und Doppelpunkten aus der Verantwortung stehlen könnten "Als Firma, aber auch als Staat, kann ich entweder Geld investieren um Kindergärten zu finanzieren - oder ich kann Sternchen einführen, das Erste ist sehr teuer, das Letzte ist umsonst!"

Kunstschaffende wie Pollatschek arbeiten mit ihrer Kunst an der Emanzipation, indem sie das Geschlecht in den Werken sprachlich neutralisieren, andere wie die Musikerin und Autorin Mira Mann, indem sie das Geschlecht in ihren Werken sichtbar machen. "Feminismus ist divers", sagt Mann, "alle Ausformungen sind willkommen." Anders als Pollatschek will sie "eine Sprache, die die Ungerechtigkeiten offenlegt". Sie will einen wilden Diskurs, Machtstrukturen auch durch Sprache verändern. Ist der Zusammenhang zwischen Suffix und Sozialisation zwar bislang nicht klar bewiesen, legen Studien doch nahe, dass dieses sprachliche Sichtbarmachen, Rollenbilder wandeln könnte. Streiten im Text nicht Künstler, sondern Künstler und Künstlerinnen, Künstler*Innen oder Künstler:Innen, stellen sich weniger Menschen nur streitende Männer vor.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5297196
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.05.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.