Süddeutsche Zeitung

Ausstellung im Kunstraum München:Kollektiver Reflexionsraum

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Die Konzeptkünstlerin Ursula Neugebauer begibt sich in ihrer ersten Münchner Einzelausstellung "Schwarzer Schnee" auf Spurensuche durch die eigene Familiengeschichte nach Ostpolen.

Von Jelena Maier

Vogelgezwitscher erklingt, dazu ein Rascheln, mehrere Frauenstimmen, ein leises Surren. Auf der weißen Wand neben der nach oben führenden Treppe stehen in schwarzen Buchstaben Begriffe: "der Rock", "das Haus", "Mutter", "Schellendorf". So hieß das polnische Dzwonów vor 1945. Ursula Neugebauers verstorbene Mutter wurde dort geboren, sie floh im letzten Kriegsjahr nach Westdeutschland und kehrte nie wieder in ihre Heimat zurück.

Auditiv nimmt die Künstlerin die Besuchenden bereits im Flur des Kunstraums mit auf eine Reise ins besagte Dorf, welches sie selbst mehrmals besuchte. Am Ende der Treppe angekommen, eröffnet sich dann auch visuell ein Einblick in die dortige Lebenswelt. Die Edition "Meer ohne Horizont" verbindet Textfragmente mit Fotos, die vor Ort entstanden sind: "der schwarze Schimmel im Innern des Hauses der Mutter", daneben "das eingestürzte Dach des verschlossenen Hauses der Schwester". An der Wand hängt eine Baumscheibe des 2023 gefällten Friedhofbaumes, mit roten Stecknadeln ist der Jahresring 1945 markiert. Neugebauer lässt im Folgenden an der sehr persönlichen Erforschung ihres familiären Stammbaums teilhaben.

Das geschieht unter anderem geografisch, zum Beispiel, indem in drei Videos Dzwonów und die Umgebung performativ durchschritten werden. Aufnahmen ruinenartiger Häuser stehen in Kontrast, aber gleichzeitig in Einklang mit jenen von Wald, Seen und Wiesen. Sieben Minuten lang geht es auf Streifzug durch ein Mohnfeld, knackend brechen die Stängel, als sich der schwarze Rock mit Blumenbordüre den Weg vorwärts bahnt. Ebendieser Rock steht auch hier im Raum. Aufgebauscht von einem Drahtgestell, scheint er wie von einer unsichtbaren Person getragen.

Auf einer Gewebewand ist das Original des nachgebildeten Kleidungsstücks zu sehen: Eine junge Frau, Neugebauers Mutter, trägt den Rock, während sie in einem Ruderboot sitzt und in die Kamera lächelt. Die historische Schwarz-Weiß-Fotografie wird mit einem Ventilator in Schwingung versetzt, und dadurch vergegenwärtigt. Im Hintergrund singen die Vögel, das wunderschöne Wetter und die blühende Natur in den Videos vermitteln das Gefühl eines warmen Sommertags. Die sich überlagernden Eindrücke kreieren eine belebte Atmosphäre, beinahe heimelig durch die wiederkehrende Symbolik der Mutter, der Natur und des (Zu-)Hauses.

Doch zugleich kann die Gesamtheit der Exponate überwältigend wirken, denn das Bild des Friedhofs und die Metapher der Entwurzelung sind allgegenwärtig. Im Dorf sowie im Geburtshaus von Neugebauers Mutter leben nun andere Menschen. Zwei Frauen berichten auf Screens von ihren eigenen Erfahrungen mit der Zwangsumsiedlung nach Dzwonów. Dabei treten auch negative Emotionen wie Entfremdung und Zukunftsängste hervor und werfen wiederum moralische Fragen auf.

Auf diese Weise fügen sich die zunächst für sich stehenden Komponenten zu einer multimedialen Umgebung zusammen. Ursula Neugebauer transformiert ihren persönlichen Ansatz der Ausstellung so in einen kollektiven Reflexionsraum über universelle und gleichzeitig intime Themen wie Familie, Zugehörigkeit, Flucht und Vertreibung.

Das Vogelzwitschern, die Stimmen der Frauen, die Bilder des Dorfes. Beim Verlassen des Raumes hallt die Palette an Eindrücken nach - noch weit über den Flur hinaus.

Ursula Neugebauer - "Schwarzer Schnee", Mittwoch bis Sonntag, 14 bis 19 Uhr, bis 12. Mai, Kunstraum München, Holzstraße 10

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