Süddeutsche Zeitung

Deutsch-türkische Kolumne "Die Isartürkin":Warum Türken auf Trash-Filme stehen

Lesezeit: 3 min

Erdoğan denkt laut darüber nach, Atomwaffen anzuschaffen. Dabei pflegen seine Landsleute ein Hobby, das gegen solchen Größenwahn Wunder wirkt.

Kolumne von Deniz Aykanat

Türken lieben ihren Fernseher. Er ist ein Familienmitglied. Mein Vater hat mit seinem Fernseher sogar Deutsch gelernt. Pünktlich um 20 Uhr sah er sich täglich die Tagesschau an, es musste dann immer absolute Stille im Wohnzimmer herrschen. Den Zeigefinger hielt er währenddessen drohend über den Lautstärkeknopf der Fernbedienung, die in meiner Familie übrigens "der Telecommander" oder "die Macht" heißt.

Als in der Familie Aykanat der erste Farbfernseher angeschafft wurde, saßen mein Vater, mein Bruder und ich (meine Mutter nicht, die liest nur, ist ja auch eine Deutsche) andächtig vor der Röhre. Als die erste Sendung - die Schlümpfe - über den Bildschirm flimmerte, klappten unsere Kinnladen nach unten. Mein Bruder flüsterte ehrfürchtig: "Die sind ja blau."

Einmal ging unser Fernseher kaputt. Wir saßen gerade auf dem Boden auf Kissen um den Couchtisch herum und aßen zu Abend, es lief "Wetten, dass ..?". Plötzlich wurde das Bild schwarz, es knisterte und knackte laut, ein Rauchwölkchen stieg über dem Fernseher empor. Wir erstarrten, mein Vater hielt sich an dem Telecommander fest. Wir erzählen uns heute noch gegenseitig davon, als ginge es um den schlimmen Autounfall eines Familienangehörigen.

Die Liebe meines Vaters zu unserem Fernseher prägte meine frühkindliche Vater-Tochter-Beziehung enorm. Eigentlich habe ich genau genommen eine Vater-Fernseher-Prägung. Während andere sich daran erinnern, wie sie als Kinder mit ihren Papas Baumhäuser bauten, kommen mir Filmnachmittage in den Sinn. Nein, keine pädagogisch wertvollen Arthouse-Filme. Mein Vater hat ein Faible für Action und für alles, was fliegt. Ist die Handlung dann auch noch mit einer Menge Kalauern garniert: Jackpot.

Manche Filme konnte er gar nicht oft genug sehen. Das Allergrößte war es, wenn es Fortsetzungen oder, noch besser, ganze Film-Reihen gab. Seit dieser Zeit kann ich "Police Academy" Teil eins bis sechs mitsprechen. Außerdem habe ich "Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug" geschätzt 300 Mal gesehen, die Fortsetzung "Die unglaubliche Reise in einem verrückten Raumschiff" sowieso. Auch die "Top Gun"-Persiflage "Hot Shots" gehört zum festen Aykanat'schen Bildungskanon. Nicht zu vergessen alle Filme mit Chevy Chase ("Spione wie wir", "Die schrillen Vier auf Achse"). Und der Grundkurs in "Trash" schlechthin: die "Nackte Kanone"-Trilogie.

Meine Mutter schaut gerne Rosamunde-Pilcher Filme. Das beruhigt sie - wenn das türkische Temperament mit meinem Vater durchgeht.

Manch Bildungsbürger könnte nun einwenden, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wir hätten die Sendung mit der Maus, Löwenzahn und Tierdokumentationen angeschaut. Aber: Eine Studie hat belegt, dass Menschen, die gerne Trash-Filme ansehen, besonders intelligent sind. Das trifft natürlich auch auf die Türken zu, klar. Die schauen diese Art von Filmen nämlich aus einem ganz bestimmten Grund: damit sie nicht durchdrehen.

Türken sind ein emotionales Volk. Sie regen sich permanent über irgendetwas auf: über Politik, über Fußball (was in der Türkei dasselbe ist), über das Wetter und so weiter. Würden Türken auch noch ständig kritische Arthouse-Filme sehen, kämen sie aus der Erregungsspirale gar nicht mehr heraus.

Dann doch lieber die "Nackte Kanone". Darin geht es um Kanonen - klar. Und um Männer, die den Weltuntergang abwenden, den sie selbst fast verursacht hätten. Also genau um diejenigen Themen, die mir im Zusammenhang mit der Weltpolitik als erstes einfallen. Handelt man diese Themen allerdings in Form eines lächerlichen Films ab, in dem Leslie Nielsen sich das Leben rettet, indem er sich an einem Betonpenis festhält, braucht man in der Realität nicht mehr ganz so dramatisch werden. Allerdings besteht zwischen dem Volk und seinen Anführern offensichtlich eine immer größere Diskrepanz. Auch bei den Türken. Vielleicht gerade bei denen? Obwohl ebendiese Anführer sich ja gerne auf die angebliche Stimme des Volkes berufen, wenn sie die Welt mal wieder an den Abgrund führen. Würde Erdoğan mehr Trash-Filme anschauen, anstatt russische Raketenabwehr zu kaufen und darüber zu sinnieren, türkische Atombomben anzuschaffen, oder würde sich Trump öfter mal "Hot Shots" reinziehen, anstatt zu twittern und Putin die Kalte-Krieg-Persiflage "Spione wie wir" anschauen, anstatt tatsächlich Kalter Krieg zu spielen, wäre uns allen extrem geholfen.

Und es hat auch Auswirkungen auf den schnöden Alltag einer deutsch-türkischen Ehe. Der Trash-Film-Konsum meines Vaters hat so manchen Familienkrach abgewendet. Wenn meine Mutter nicht liest, schaut sie übrigens gerne Rosamunde-Pilcher-Filme. Kreidefelsen vor Cornwalls Küsten beruhigen sie einfach, sagt sie. Wenn das türkische Temperament mit meinem Vater durchgeht.

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Quelle:
SZ vom 25.09.2019
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