Süddeutsche Zeitung

Theatergeschichte:Ort der Dichter und Lenker

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Vor hundert Jahren eröffnete in der Senefelderstraße die "Neue Bühne" als reines Arbeitertheater. Hausdramaturg war Oskar Maria Graf, der dem Theater ein literarisches Denkmal setzte

Von Oliver Hochkeppel

So wie die Zwanzigerjahre unseres Jahrhunderts mit der Corona-Krise nicht gerade vielversprechend beginnen, so starteten auch die "Golden Zwanziger" vor 100 Jahren in Bayern und München gar nicht gülden. Nach Revolution und Räterepublik hatte deren brutale Niederschlagung durch Freikorps und Reichswehr eine Riege ausgewiesener Republik- und Demokratiefeinde in die Führungspositionen gebracht, die Bayern zur "Ordnungszelle" im Reich zu machen gedachten. Verbunden mit Wohnungsnot, Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise kein idealer Nährboden für kulturelle Freiheit. Und doch waren die Künstler und Intellektuellen, die die "Kunststadt" München vor dem Krieg zum liberalen und demokratischen Gegenbild Berlins geformt hatten, nicht alle verschwunden oder eingesperrt, ebenso wenig wie die Hunderttausende, die dem ermordeten Ministerpräsidenten Kurt Eisner das letzte Geleit gegeben hatten. Auch sie versuchten trotz des reaktionären Gegenwinds weiterzumachen. Pars pro toto steht dafür die Eröffnung der "Neuen Bühne" am 21. Mai 1920.

Ein reines Arbeitertheater, das dem Proletariat anspruchsvolle Schauspielkunst nahebringen sollte, war diese von Regisseur Eugen Felber gegründete und geleitete Bühne, genossenschaftlich organisiert: Die "Genossen" des Theatervereins hatten jeweils mit einem Anteil von 20 Mark gezeichnet, dafür waren sie Mitbesitzer und erhielten ermäßigte Eintrittspreise. Felber verstand sein Unternehmen als sozialistisch, aber "nicht politisch" - vielleicht auch wegen der rigiden Zensurbestimmungen. Viele Parteigänger der Revolution fanden sich dort zusammen, zum Beispiel war Fritz Schaefler der Bühnenbildner, einer der wichtigsten expressionistischen Künstler der Revolution, der unter anderem viele Holzschnitte für Revolutionszeitschriften wie die Süddeutsche Freiheit beigesteuert hatte. Zu diesem Konzept passten die Gegebenheiten. Theatersaal und Bühne befanden sich in der Senefelderstraße direkt neben dem Hauptbahnhof ebenerdig im Rückgebäude einer Gastwirtschaft, die beiden Büroräume im ersten Stock des Vorderhauses direkt über der Gaststube.

Viel wüssten wir heute nicht mehr davon - es gibt keine Fotos, keine Unterlagen des Theaters und so gut wie keine anderen Dokumente mehr -, hätte nicht der Hausdramaturg später davon berichtet: Oskar Maria Graf. Der Sohn einer vielköpfigen Bäckerfamilie aus Berg am Starnberger See war 1911, mit 17, vor den Misshandlungen seines Bruders in die Großstadt geflohen, nicht zuletzt, um seine literarischen Neigungen ausleben zu können. Existenzielle Not, Weltkrieg und Revolution politisierten ihn, allerdings undogmatisch und unparteiisch. Er verstand sich als proletarischer Rebell gegen die Obrigkeit aufseiten der Unterdrückten; Intellektuellen und Parteisoldaten stand er zeitlebens misstrauisch gegenüber. Nach der Niederschlagung der Revolution war er desillusioniert, mürrisch, zurückgezogen und in ständiger Geldnot. Das über einen Freund an ihn herangetragene Angebot der Dramaturgenstelle an der Neuen Bühne kam ihm daher durchaus entgegen, obwohl er "von Theater keine Ahnung" hatte, wie er später selbst einräumte: "Ich bewunderte allerdings die Schauspieler und hatte vom Theater eine so hohe, fast ehrfürchtige Meinung, dass ich es aus diesem Grunde selten besuchte. Es kam mir nämlich immer vor, als seien dort nur die gescheitesten und gebildetsten Leute, die mindestens so bedeutend wären wie die Klassiker. Ich fühlte mich in einer solchen Gesellschaft unbehaglich, denn dort musste doch meine Ungebildetheit auf Schritt und Tritt auffallen."

In Wahrheit hatte Graf viele Dramen gelesen. Diese Belesenheit, seine rhetorischen Fähigkeiten, vor allem aber seine "Zuverlässigkeit", aufseiten der Arbeiterschaft zu stehen, machten den gerade erst 26-Jährigen für Felber zur Idealbesetzung als Dramaturg der Neuen Bühne. In dieser Funktion war Graf für die Stücke-Auswahl zuständig, und der Berg der eingereichten Dramen und Manuskripte muss gewaltig gewesen sein. Man muss sich vor Augen führen, welche zentrale Rolle das Theater damals im Kulturbetrieb hatte. In Zeiten, als das Kino noch stumm und der Rundfunk noch nicht erfunden war - von unserer heutigen Internet- und Neue-Medien-Flut ganz zu schweigen -, stellte es neben Zeitungen und Zeitschriften das einzige Medium dar, in dem gesellschaftspolitische Fragen öffentlichkeitswirksam verhandelt werden konnten. Nach dem Ersten Weltkrieg stand es, nunmehr auch erstmals oft in kommunaler Hand, zudem am Anfang radikaler formaler wie inhaltlicher Umwälzungen. Neue Bühne war nicht nur der Name der Münchner Neugründung, es war ein Schlagwort der Zeit, das in Dutzenden programmatischer Aufsätze zum Theater auftauchte.

Eröffnet wurde die Neue Bühne am 21. Mai 1920 mit dem (im Münchner Delphin-Verlag erschienenen) Stück "Freiheit" von Herbert Kranz. Es ist oft zu lesen, dass dies die Uraufführung gewesen sei, was nicht ganz stimmt. Bereits im Dezember 1919 war es in Berlin vom "Proletarischen Theater des Bundes für proletarische Kultur", einer Wanderbühne für Arbeiterpublikum, gegeben worden - die einzige Inszenierung, bevor sich das Projekt wieder auflöste. Das Drama, das in einer Zelle eines Militärgefängnis während des Krieges spielt, in der sich acht wegen Kriegsgegnerschaft, Desertion, Aufruhr und Ähnlichem zum Tode Verurteilte introspektiv die Motive ihres individuellen Kampfes gegen Obrigkeit, herrschende Klasse und Kriegstreiber erzählen, traf wohl einen Nerv. Nach der Aufführung in München wurde es noch im selben Jahr unter anderem auch in Stuttgart (mit einem minimalistisch-expressionistischen Bühnenbild des Bauhaus-Künstlers Willi Baumeister) und an Erwin Piscators "Proletarischem Theater" in Berlin gespielt. Wegen seiner Betonung des Individuums gegenüber dem Kollektiv wurde das Stück von der Kommunistischen Partei in ihrem Zentralorgan Die Rote Fahne als "antirevolutionär" abgelehnt, den Überzeugungen Grafs wird es umso mehr entsprochen haben. Was von den von ihm ausgewählten Stücken dann von Felber tatsächlich inszeniert wurde, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, es existieren keine Spielpläne mehr. Allerdings hat Lion Feuchtwanger, der von September bis Ende Dezember 1920 als Theaterkritiker für die Münchner Sonntags-Zeitung und die Münchner Montags-Zeitung arbeitete, im Oktober zwei Rezensionen aus der Neuen Bühne geschrieben. Am 3. zu "Büxl", einer aus dem Jahr 1911 stammenden operettenhaften Komödie, und am 16. zu "Mammon". Die Überschriften der Kritiken, "Primitives Theater" und "Guter Wille - Mangelnde Kraft" zeugen vom Vorbehalt des bürgerlich-intellektuellen Feuchtwanger gegenüber dem proletarischen Theater.

Ein Brecht-Stück wurde wohl nicht an der Neuen Bühne gespielt - obwohl Bertold Brecht persönlich bei Graf mit seinen "Trommeln in der Nacht" vorstellig wurde. "Ein spitznasiger Mensch", der "sehr unrasiert und betont proletarisch angezogen war, obgleich sein bebrilltes junges Gesicht eher an einen eben fertig gewordenen Lehramtskandidaten erinnerte", sei in sein Büro gekommen, schrieb Graf später. Graf riss dessen Päckchen auf, blätterte kurz in den Seiten und befand: "Das können wir nicht brauchen." Brecht schaute ihn an wie einen Idioten: "Sie haben es doch noch gar nicht gelesen". "Wissen Sie", entgegnete Graf, "wir dürfen feuerpolizeilich immer bloß acht Personen auf der Bühne beschäftigen." Was Brecht mit einem gefrorenen Lächeln quittierte, "denn richtig herzhaft lachen konnte er offenbar überhaupt nicht," wie Graf diese erste Begegnung enden lässt. Die beiden blieben sich trotzdem gewogen, und 1944 sollte Brecht dem Kollegen sein Gedicht "Die Bücherverbrennung" widmen.

Bereits nach wenig mehr als einem Jahr, im Sommer 1921, musste die Neue Bühne wieder schließen. Gescheitert an ausbleibenden Einnahmen, aber auch am reaktionären Klima der Stadt. Felber versuchte es danach zusammen mit Friedrich Mellinger noch einmal und gründete in Schwabing die "Schaubühne" im Vortragssaal der Schwabinger Buchhandlung Steinicke. Der war jedoch ein noch kürzeres Leben beschieden, sodass Felber ans Nationaltheater nach Mannheim ging. Eine "Abstimmung mit den Füßen", wie sie viele linksgerichtete Künstler und Intellektuelle 1920 bis 1923 trafen und München verließen. Die "Goldenen Zwanziger", wie sie sich ab 1923 vornehmlich in Berlin mit der veränderten Rolle der Frau, Amerikanisierung und Technikbegeisterung, mit dem Aufstieg von Sport, Kino und Kabarett, mit Avantgarde und Reformbewegung etablierten, standen so in München unter einem modernitätskritisch-konservativen Vorbehalt, der schließlich in der Rolle als "Hauptstadt der Bewegung" münden sollte.

Oskar Maria Graf immerhin blieb. Und hatte an der Neuen Bühne sein potenzielles Lesepublikum kennengelernt, dem er danach die Texte lieferte. Unter anderem 1927 mit den - sehr zu empfehlenden - Erinnerungen an seine Zeit an der Neuen Bühne, der er schon mit dem Titel ein bleibendes Denkmal setzte: "Wunderbare Menschen. Heitere Chronik einer Arbeiterbühne nebst meinen drolligen und traurigen Erlebnissen dortselbst."

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SZ vom 20.05.2020
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