Süddeutsche Zeitung

Berufung vor dem Oberlandesgericht:Arzt operiert das falsche Auge

Lesezeit: 2 min

Von Stephan Handel

Wie viel ist ein Auge wert? Oder zwei? Lässt sich der Verlust des Augenlichts überhaupt in Geld aufwiegen? Wahrscheinlich eher nicht - die Justiz muss sich aber gelegentlich doch mit diesen Fragen befassen, so am Donnerstag der Arzthaftungs-Senat des Oberlandesgerichts (OLG).

Am Klägertisch sitzt Ali C., dem das wohl schlimmste passiert ist, was man sich im Zusammenhang mit ärztlichen Behandlungen nur vorstellen kann: Sein Arzt hat das falsche Auge operiert. Ali C., 36 Jahre alt, leidet seit seinem 20. Lebensjahr an einer Hornhaut-Verdünnung und -verkrümmung; beide Augen sind davon betroffen. Im Jahr 2014 wurde das linke Auge so schlecht, dass er zu einem renommierten Münchner Augenarzt ging - der riet ihm zu einer Hornhauttransplantation.

Bei dem Eingriff im April 2015 bereitete der Anästhesist den Patienten auf die Operation vor - und klebte dabei aus Versehen das linke Auge zu, also das, das eigentlich operiert werden sollte. Der Augenarzt bemerkte den Irrtum ebenfalls nicht, erst als er schon am rechten Auge zu schneiden begonnen hatte, machte ihn der Anästhesist auf die Verwechslung aufmerksam. Der Eingriff war aber schon so weit fortgeschritten, dass er nun am eigentlich falschen, dem rechten Auge zu Ende gebracht wurde.

Die Versicherung des Arztes zahlte dem Patienten freiwillig 20 000 Euro - das fand der aber zu wenig, vor allem, weil nun die Sehkraft an beiden Augen schwächer sei als vor der OP. Vor dem Landgericht bekam er zwar recht, das Urteil dort sprach ihm weitere 50 000 Euro Schmerzensgeld zu. Das war ihm immer noch nicht genug, dem Arzt hingegen war es zu viel, so dass sich die Parteien in der Berufung vor dem OLG trafen.

Dort ging es dann darum, was denn bei einer Schmerzensgeld-Zahlung alles inbegriffen - und damit abgegolten - wäre. Denn unklar ist, ob und wie die fehlerhafte Operation C.s Risiko erhöht, im Lauf der Zeit auf einem oder auf beiden Augen zu erblinden. Thomas Steiner, der Vorsitzende Richter, fasste die Möglichkeiten so zusammen: Wenn die Zahlung nur den jetzigen Status umfasst, dann gäbe es eher weniger als am Landgericht - vielleicht 10 000 Euro zu den schon bezahlten, allerdings mit der Möglichkeit, im Fall einer tatsächlichen Erblindung später noch einmal klagen zu können. Sollte die jetzige Zahlung auch eine eventuelle Erblindung auf dem rechten Auge umfassen - so dass Ali C. deswegen später nicht mehr klagen könnte -, so sei eine weitere Zahlung von 50 000 Euro denkbar. Der Einschluss einer beidseitigen Erblindung hingegen mit entsprechend deutlich höheren Summen sei laut Steiner hingegen eher theoretischer Natur.

Der Rat des Richters an den Kläger: Rücknahme der Berufung und Annahme des Landgerichts-Urteils, mit folgendem Argument: "Sie haben jetzt 70 000 Euro auf dem Konto. Mehr werden Sie von uns nicht bekommen."

Mit diesem Satz allerdings hatte Steiner, eigentlich einer der souveränsten und umsichtigsten Richter am OLG, eine kleine Ungeschicklichkeit begangen - denn als Christian Koller, der Anwalt des Arztes, dieses Angebot hörte, leuchteten bei ihm sämtliche Lichter: "Sie haben gerade gesagt", meinte er zum Vorsitzenden, "dass Sie deutlich weniger zusprechen werden als das Landgericht." Und damit sei er nicht mehr bereit, über Berufungsrücknahme oder eine andere einvernehmliche Lösung zu reden: "Ich würde einen Anwaltsfehler begehen" - und dafür könnte ihn sein Mandant haftbar machen.

So musste sich der Senat ins Unvermeidliche fügen und wird ein Urteil zu sprechen haben. Dazu wird eine erneute Beweisaufnahme notwendig sein, wohl auch in Form eines Sachverständigen-Gutachtens darüber, wie sich Ali C.s Sehvermögen vor und nach der schiefgegangenen Operation entwickelt hat.

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Quelle:
SZ vom 13.12.2019
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