Süddeutsche Zeitung

Mobbing in der Schule:"Der oder die Betroffene ist nie selbst schuld"

Lesezeit: 4 min

Interview von Lisa Böttinger, München

Die Münchner Familientherapeutin Anette Frankenberger arbeitet unter anderem mit Eltern, deren Kinder unter Mobbing leiden - oder die sie davor schützen wollen. Sie warnt vor Typisierungen und hat die Erfahrung gemacht, dass Mobbing-Fälle in der Regel eine Vorgeschichte haben.

SZ: Manche Kinder werden zu Mobbing-Opfern oder -Tätern, andere nicht. Gibt es bestimmte Persönlichkeiten, die für diese Rollen typisch sind?

Anette Frankenberger: Auch wenn manche Studien das nahelegen, finde ich solche Aussagen über Täter- und Opferpsychologie hochproblematisch. Mobbing kann jeden treffen. Und der oder die Betroffene ist nie selbst schuld. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Täter von heute die Opfer von gestern sind. Die Kinder, die schon einmal ausgegrenzt oder gemobbt wurden, wollen nie wieder in diese Position kommen und versuchen sich deshalb auf die andere Seite zu schlagen, um sich zu schützen.

Also hat jeder Mobbingfall eine Vorgeschichte?

Die meisten Täter waren entweder schon einmal selbst Opfer oder sind es noch in ihren eigenen Familien. Deshalb ist das Stigma "Täter" problematisch. Auch, weil unter den Eltern immer schnell mit dem Finger gezeigt wird. Auch die Opfer sind nicht "typisch", sondern gerade in der Schule meistens einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Da kommt ein neuer Schüler, den anderen ist langweilig, einer fängt an, das Federmäppchen runterzuschmeißen, die anderen finden das lustig. Auf einmal geht eine Dynamik los, die wie aus dem Nichts kommt und sich schnell verstärkt. Weil das Kind vielleicht genau so verärgert oder ängstlich reagiert, wie die anderen sich das gewünscht haben, finden das alle cool - und machen weiter.

Wer spielt in dieser Gruppendynamik noch eine Rolle?

Lehrkräfte und Gruppenleiter haben einen oft unentdeckten und auch unwillkürlichen Anteil an diesem Prozess. In einem Fall bekam das Schülerteam, das am schnellsten mit einer Gruppenarbeit fertig war, Belohnungspunkte. Wenn dann ein Kind langsam ist, sagen die anderen schnell: Dich wollen wir hier nicht haben. Das ist ein gut gemeintes Motivationsspiel der Lehrkraft, das aber komplett nach hinten los geht.

Machen manche Lehrer also unbewusst etwas falsch?

Lehrer stehen unter Dauerbeobachtung. Das heißt, die Kinder gucken ganz genau: Was macht der oder die, was hat er an, ist der fair oder unfair? Wenn eine Lehrkraft etwas in einer Klasse tut oder ein Pädagoge in einer Gruppe, dann hat er absolute Vorbildfunktion. Wenn dann vor versammelter Mannschaft Sätze kommen wie "So blöd kann man doch gar nicht sein" oder, was ich auch schon gehört habe, "Geh nach Hause und sag deiner Mama, sie soll die Nachhilfe absagen, es hat eh keinen Sinn", dann ist das quasi eine Aufforderung an die Schüler, das auch so zu machen.

Das Ausmaß dieser Vorbildfunktion ist vielen Lehrern nicht bewusst. Ihr Job wird immer anstrengender, weil viele Aufgaben, die eigentlich Familien übernehmen sollten, in die Schulen und Einrichtungen verlagert werden. Die Lehrer sollen immer mehr auffangen und haben kaum eine Chance, sich um sich selbst zu kümmern. Deshalb fällt dann die Selbstregulation schwerer.

Können Eltern überhaupt etwas tun, um ihr Kind vor Mobbing zu schützen?

Eher nicht. Runtergebrochen könnte man sagen: Wenn wir allgemein für ein wertschätzendes Klima in den Familien und später in den Kindergärten und Schulen sorgen, dann haben wir das Problem nicht. Wenn die Situation aber da ist, dürfen Eltern eines gemobbten Kindes nicht in die Falle laufen, zu fragen: Was ist mit meinem Kind falsch? Stattdessen sollten sie dem Kind kommunizieren: Okay, das ist eine blöde Situation, wie kommen wir da raus? Und sie können ihrem Kind aufzeigen, was es tun kann. Dass es sich andere Freunde suchen kann, wenn es allein ist, oder dass es den Kontakt zur Lehrkraft sucht. Mobbing findet meistens im unsichtbaren Bereich statt. Kinder brauchen deshalb eine Erlaubnis, sich mitteilen zu dürfen, ohne als Petze dazustehen.

Wie bemerken Eltern, dass ihr Kind betroffen ist?

Wenn das Kind immer unlustiger in die Schule geht, öfter krank wird oder wenn es nach Hause kommt, total niedergeschlagen ist und nicht darüber reden will. Manche Kinder wollen hartnäckig in die Schule gebracht werden, weil da vielleicht auf dem Schulweg etwas wartet. Es können auch Sachen verschwinden oder kaputt gehen, und statt einer Erklärung druckst das Kind nur herum. Die Scham bei den Opfern ist unglaublich groß, weil viele Kinder denken: "Mit mir stimmt was nicht, sonst würde mir das nicht passieren."

Wie soll dann der nächste Schritt der Eltern aussehen, der Schule oder anderen Eltern gegenüber?

Der erste Impuls, nämlich die anderen betroffenen Eltern anzurufen, ist nicht immer der beste. Stattdessen sollte die Schule mit ihren Schulsozialarbeitern oder Streitschlichtern aktiv werden, die die betroffenen Kinder zu einem Gespräch einladen können - erst ohne das Opfer, dann mit ihm. Erst dann sollten Schulen die Eltern dazu holen. Sonst endet es nämlich schnell wie in Roman Polanskis Film "Der Gott des Gemetzels": Eigentlich treffen sich alle im Guten, am Ende gibt es ein Desaster. Das geht dann sowohl in der Schule als auch zwischen den Eltern weiter.

Wie wirkt sich Mobbing langfristig auf Kinder und Familien aus, die sich damit auseinandersetzen müssen?

Wenn das Mobbing nicht aufhört, wirkt sich das dramatisch auf das Selbstbild und das Selbstwertgefühl eines Menschen aus. Daher ist es wichtig, dass man so etwas schnell merkt und schnell beendet. Im Zweifel mit drastischen Maßnahmen. Oft bleibt traurigerweise nur, dass das Opfer die Klasse oder gar die Schule verlässt, weil das Kind zum Beispiel einen bestimmten Ruf nicht mehr los wird.

Was ist, wenn das Mobbing auf dem Handy weitergeht?

Cyber-Mobbing gibt dem Ganzen eine neue Qualität. Es macht es Kindern viel einfacher, sich dem "Mob" gegen einen Mitschüler anzuschließen, auch wenn es das in der analogen Welt nie täte. Als Eltern müssen wir wissen, wo sich unsere Kinder digital rumtreiben und wir müssen auch mit Online-Angeboten und Social-Media-Kanälen eine gewisse Geläufigkeit bekommen. Nicht hinzuschauen, weil ich Angst davor habe, ist keine Lösung.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2017
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