Süddeutsche Zeitung

Mitten in  Schwabing:Artenschutz für Radler

Lesezeit: 1 min

"Atomkraft - nicht schon wieder": Manche Autofahrer wollen die Welt retten, aber nicht für Radfahrer bremsen

Von Anita Naujokat

München ist in den Ferien herrlich entspannt. Die meisten Hektiker sind in den Urlaub abgedüst, der Oktoberfest-Hype ist noch nicht ausgebrochen, Einheimische und Touristen sowieso haben einen Gang runtergeschaltet. Nicht an diesem Tag. Es ist 18 Uhr. Auf den Straßen ist die Stimmung gereizt. Jetzt-fahr-halt-endlich-los-Gehupe an den Ampeln, genervtes Durchtreten der Pedale.

In der Türkenstraße bereitet sich die Radlerin darauf vor, auf die Linksabbiegespur zu kommen. Regenkapuze runter, die sich beim Blick über die Schulter immer so gemein vor die Augen schiebt. Lieber nass als unter die Räder kommen, denkt sie, als sich plötzlich direkt vor ihr wie ein riesiger Wal eine große graue Schnauze in ihre Bahn auf der Straße schiebt. Das Hindernis kommt aus der Einfahrt. Für Schulterblick und andere Feinheiten ist keine Zeit, bleibt nur die Vollbremsung. Entsetzt sucht die Radlerin den Blick des Autofahrers. Ohne auch die Scheibe runterzukurbeln - es regnet ja - schreit der Fahrer ihr durch das geschlossene Fenster zu: "Ja, wie soll ich denn sonst hier rauskommen!?"

Tja, da hätte man schon ein paar Ideen: Sich vielleicht rauswinken lassen, wenn man nix sieht? Gleich in seiner Kleinstadt bleiben, wenn einen die große so überfordert? Oder ein Vehikel mit weniger ausladendem Vorbau fahren, wenn man sonst nicht unfallfrei aus der Einfahrt kommt. Würde auch bestens zur anderen zur Schau gestellten Gesinnung des Fahrers passen. Ungerührt setzt der nach seiner verbalen Einlassung die Fahrt fort. Die Rückfront des Wagens hat die Radlerin noch fast bis zur Maßmannstraße vor Augen. "Atomkraft - nicht schon wieder", steht da auf dem Aufkleber auf der Heckscheibe, und darunter irgendetwas von Grünen. Ist ja mal wieder typisch, denkt die Radlerin, deren Schreck langsam Zorn gewichen ist. Die ganze Welt retten wollen, womöglich noch eigenhändig den Regenwald aufforsten, sich dem Klimawandel und Gletschersterben entgegenstemmen, bedrohten Tieren und Pflanzen helfen - nur der Radler vor der eigenen Stoßstange genießt keinen Artenschutz.

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Quelle:
SZ vom 02.09.2015
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