Süddeutsche Zeitung

Milbertshofen:Jugendkultur im besten Alter

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Auf der kahlen Betonwand hinter dem Kulturhaus Milbertshofen entstehen Graffiti mit Stadtpanorama. Unter den Sprayern sind auch Senioren, sie finden die Aktion ziemlich cool

Von Jerzy Sobotta, Milbertshofen

Es sieht aus wie bei der Spurensicherung: Fünf Gestalten in weißen Polyester-Overalls, weißem Mundschutz und weißen Plastikhandschuhen stehen auf dem Basketballfeld hinter dem Kulturhaus in Milbertshofen. Einige Passanten auf der Schleißheimer Straße halten an und schauen durch die große Glaswand, die das Spielfeld vom Verkehr abschirmt. Ein Verbrechen ist nicht passiert, doch verboten sieht es trotzdem aus: Man hört das Klackern von Spraydosen, der Geruch von Lackfarbe liegt in der Luft, und die Gestalten machen sich an der großen, grauen Wand zu schaffen, die sich über dem Basketballplatz auftürmt.

Als sich eine der weißen Overall-Figuren umdreht und den Mundschutz abnimmt, blickt man in das Gesicht eines älteren Herrn. Der Sprayer heißt Peter Baer und ist 61 Jahre alt. Er sprüht zum ersten Mal in seinem Leben. "Eigentlich ist es ganz cool. Aber mein Zeigefinger macht schlapp", sagt er und mustert die Wand. Eine grüne Farbfläche deutet zwei Hügel an, darauf schimmert im hellen Blau die Silhouette einer Großstadt hindurch: Eine Kirche mit zwei Türmen, ein Fernsehturm, die charakteristischen Spitzen des Zeltdachs des Olympiastadions. Mit einem Pappkarton deckt er die Kanten ab. Beim Sprühen zittert seine Hand. "Die Profis machen es ganz freihändig. Aber das können wir nicht", sagt Baer.

Das Graffiti-Projekt im Kulturhaus Milbertshofen will nicht nur einen kleinen Einblick in die Welt der urbanen Straßenmalerei geben. Es will vor allem die martialische Grenze aus Sichtbeton überwinden, die bisher das Kulturhaus vom neu gebauten Stadtteilzentrum trennt und den Bolzplatz an der Schleißheimer Straße überragt. Aus der grauen Wand wird eine Hommage an Milbertshofen. Das ganze Viertel wird abgebildet, vom Olympiapark bis zum Mira-Einkaufszentrum. Ebenso sollen alle mitmachen können, erklärt Diana Koch, die Programmleiterin des Kulturhauses. Auch sie trägt einen weißen Einweg-Overall und hält eine Sprühdose in der Hand.

Der einzige ohne Schutzkleidung ist Benjamin Herzberg: Der 32-Jährige trägt besprühte Sneakers, Camouflage-Hose und ein blaues T-Shirt mit dem Schriftzug "Blue Bird". Herzberg leitet die Gruppe an. Immer wieder verrät er einen neuen Kniff oder bessert eine Linie aus. Sonst hat er nur Kinder und Jugendliche in seinen Workshops. Dass Senioren dabei sind, ist auch für ihn völlig neu. Nachdem sich seine Schützlinge ausgetobt haben, wird er den Großteil des Werkes vollenden, Figuren malen und die große Magnolie, die für den Vordergrund bestimmt ist. Sie soll an Italien erinnern, ganz so, wie die Architektur des Kulturhauses. Die Vorlage hat Herzberg vorher am Computer entwickelt und sie Anfang April den Teilnehmern des Workshops vorgestellt. Während die Älteren darüber diskutierten, ob man den Drachen nicht lieber durch einen Regenbogen ersetzt, gingen damals die Graffiti-Bücher durch die Reihen. Darin sind Vermummte in Kapuzenpullis zu sehen, die sich in tiefster Nacht über S-Bahnen hermachen. Das hat zwar wenig mit dem Projekt in Milbertshofen zu tun, aber der wohlige Schauder des Verbotenen haftet dem Image der Sprayer immer noch an.

Auch der gebürtige Berliner Herzberg war einmal jung. Er hat schon in den Neunzigerjahren angefangen zu sprühen, als in deutschen Großstädten kaum ein Zug ohne Tags, zerkratzte Scheiben und Monsterköpfe gefahren ist. Doch die Zeiten, in denen er sich die Nächte um die Ohren geschlagen hat, sind vorbei. "Die Prioritäten verschieben sich. Wenn man Kinder zuhause hat, will man keine Hausdurchsuchung bekommen", sagt Herzberg und lacht. Heute verhilft er der verruchten Jugendkultur ins Gutbürgerliche. Sein Sprayerkollektiv nennt er "Künstlergruppe" und hat sich einen Namen gegeben, der an Wassily Kandinsky angelehnt ist: "Der blaue Vogel". Zu ihrem Programm gehören Projekte, Ausstellungen, Auftragsarbeiten und Jugendworkshops.

Gerade in München habe die Szene schon früh den Untergrund verlassen, erzählt Herzberg. Das unterstützt seit einigen Jahren verstärkt auch die Stadt: Seit etwa vier Jahren stellt sie Sprayern Wände legal zur Verfügung, etwa die Backsteinfassade der Halle 6 der Münchner Markthallen zwischen Tumblinger- und Lagerhausstraße, die erst dieses Jahr dazugekommen ist. Statt viel Geld für Gebäudereinigung auszugeben, hat das Kulturreferat sogar ein eigenes Budget für Street Art. 120 000 Euro Zuschuss gibt es für Graffiti-Projekte, die sich Sprayer selbst ausgedacht haben. Auch Benjamin Herzberg hofft, dass er in naher Zukunft von Projekten wie dem im Kulturhaus leben kann. Kreativität, künstlerische Entfaltung und einen Blick für die Umgebung könne er den Teilnehmern dabei mitgeben. Nur eins wird er ihnen nie vermitteln können: "Das Gefühl, auf der Jagd zu sein."

Das Graffiti-Projekt endet mit einer Open Air Finissage am Sonntag, 2. Juni, um 18 Uhr im "Glaspalast" hinter dem Kulturhaus Milbertshofen am Curt-Mezger-Platz 1.

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Quelle:
SZ vom 29.05.2019
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