Süddeutsche Zeitung

Medien:Schutz in unheimlichen Zeiten

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Die Münchner Zeitschrift "Wendepunk.t" soll gemäß Karl Kraus politisch "denken" und "fühlen". Das tut sie in ihrer Pandemie-Ausgabe

Von Jürgen Moises

München - Corona hat uns kalt erwischt. Mit diesem Satz spricht Dietmar Höss im Grunde für uns alle. Und er tut es speziell für diejenigen, die wie er in der Kulturbranche arbeiten. "Die Wochen danach hofften wir. Wir wollten nicht wahrhaben, dass sich monatelange Arbeit so einfach in Luft auflöst." Was den Leiter des Münchner Rationaltheaters dann aber ebenfalls überrascht hat: Die "Welle der Solidarität", die ihn und seine Mitstreiter erreicht hat. Eher enttäuscht haben ihn die "zweifelhaften Hilfsprogramme", die es auf eine sehr ungleiche Art für Unternehmen wie die Lufthansa und Solo-Selbständige gab. Auch damit ist Höss nicht allein. Und er macht deutlich: Auf diese Art hätte man sich das alles auch gleich sparen können.

Wieso? Das kann man in der "Pandemie-Ausgabe" des Wendepunk.t nachlesen. Der Münchner "Zeitschrift für eine andere Zeit", die Hans-Peter Söder seit mittlerweile sieben Ausgaben im Verlag Christoph Dürr herausgibt. "Die Anatomie der Ungleichheit" heißt der darin enthaltene Text von Höss, der damit mehr will, als nur auf die übliche Weise die Corona-Politik zu kritisieren. Ihm geht es um Grundsätzliches, um Systemkritik, und so stellt er die für ihn entscheidenden Frage, "wo diese Milliarden aus den Hilfsprogrammen eigentlich landen". Die einfache Antwort: In der Miete, die der Künstler genauso wie der Gastwirt oder Einzelhändler zahlt, und das nicht selten an große Immobilienfirmen wie "Deutsche Wohnen" und dahinter stehende Fondsgesellschaften wie Blackrock.

Das heißt: Hätte man statt der vielen kleinen Hilfspakete ein einziges großes für die Immobilienwirtschaft geschnürt, das Ergebnis wäre weitgehend das gleiche. Und es erklärt, warum diese als fast einzige Branche nicht unter der Coronakrise leidet. Womit wir bei der "Verteilung von Grund und Boden" wären, für die Höss einen "Wendepunkt" fordert. Nicht wegen der Kunst und Subkultur: "Uns wird es immer geben." Sondern weil die Spekulation mit Grund und Boden das "friedliche Zusammenleben" gefährdet. So gesehen könnte man Corona abermals als "Brennglas" deuten, das noch tiefere Probleme offenbart. Nur wer soll sich diesen, jetzt wo auch noch Hans-Jochen Vogel als Mitstreiter fehlt, entgegenstellen?

Aber Lösungen will der Wendepunk.t nicht bieten, nicht "Politik machen", wie es im Vorwort heißt. Sondern nach Vorbild von Karl Kraus politisch "denken" und "fühlen" sowie "Symptome" aufzeigen. Möglich sei das durch Literatur, und deshalb sind auch literarische Texte, Gedichte, enthalten. Etwa von Durs Grünbein, der uns in "Zirkus Maximus" und "Begräbnis der Ratte" zu den Mülleimern der Moderne führt. Manfred Ach steuert Aphorismen bei, wie: "Eine der berühmtesten Operetten, 'Die Fledermaus', wird als potenzieller Virenüberträger vom Spielplan gestrichen". Und in Daniel Falbs Gedicht "Unschuld" fällt ein 108-Jähriger im "Eierschalenhospiz" der Zukunft nach Gedanken über die Finanzkrise oder die Google Home Box auf sein Fleisch zurück.

Patrick Poti erzählt die "Geschichte zweier Verkaufsgespräche - in Zeiten nach Corona". In Form einer Satire, deren Witz aber nicht immer zündet. Gerhard Falkner stellt mit Carlo Schmidt und Helmut Brosch zwei Künstler vor. Roland Hagenberg hat ein schönes Interview von 1982 mit H.C. Artmann wieder ausgegraben, der darin über Wien, Berlin oder das vorangegangene Jahrzehnt wettert. "In der Musik erkennst du, ob ein Dezennium gut oder schlecht war und die 70er waren grauenvoll." Mario Steigerwald hat Fotos beigesteuert. Schwarz-weiße Momentaufnahmen aus Corona-München. Man sieht Menschen im Park, ein Kind im Hinterhof, Polizisten mit Masken, die die Theresienwiese überwachen oder unterhalb der Bavaria mit einem Fahrradfahrer diskutieren. Bilder, die die seltsam diffuse Lockdown-Stimmung einfangen. Oder auch den mit Corona verbundenen, schwierigen "Konflikt" zwischen Sicherheit und Freiheit.

Eigentlicher Kern des Heftes ist aber eine Rede, die Hans-Peter Söder zur Eröffnung der Ausstellung "(Im)Possible Futures" in der Galerie Christoph Dürr gehalten hat. Auch diese dreht sich um die Freiheit, und zwar in Bezug auf "problematische" Denker wie Nietzsche, Spengler und Baudelaire. Freiheit sei der "unheimlichste aller Wünsche", heißt es darin, und dass sie mit der Lüge im Verbund sei. Söder wirft seinem Publikum Trägheit vor, pocht auf seine Denkfreiheit. Und weil er mit alldem in der Galerie einen kleinen Tumult auslöste, dokumentiert er nicht nur seine Rede, sondern erzählt seinen Vortrag szenisch nach. Das hat Charme, einen gewissen Biss, aber die Selbstinszenierung als Provokateur und Freigeist geht einem dann doch leicht auf die Nerven. Lesenswert sind seine Gedanken dennoch, so wie das gesamte Pandemie-Heft.

Wendepunk.t Nr. 7 ist für 7,50 € unter wendepunk-t.de, in der Galerie Christoph Dürr sowie in vereinzelten Buchhandlungen erhältlich.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2020
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