Süddeutsche Zeitung

Marstall-Zelt:Dem Wahnsinn ein wohnlicher Ort

Lesezeit: 4 min

"Learning from Las Vegas": Der neue Marstall ist wie die anderen Wiesn-Zelte vor allem ein dekorierter Schuppen. Und doch gibt es Unterschiede. Wirt Siegfried Able hat ein gigantisches Wohnzimmer geschaffen.

Von Gerhard Matzig

Das neue Marstall-Zelt ist, abgesehen von seinem generell umstrittenen Neusein als Nachfolgebau des Hippodroms, schon insofern eine Herausforderung für die Architekturkritik, als es sich beim Marstall-Zelt weder um einen Marstall noch um ein Zelt handelt.

Bautypologisch gilt der Marstall, dessen Name sich aus dem Althochdeutschen ("marah" für Pferd oder auch Mähre) ableitet, als die Gesamtheit der Stallungen für Pferde und Wagen eines Fürsten. Nun ist aber Festzeltwirt Siegfried Able bei allem womöglich innerlich vorhandenen, zumindest lautmalerisch durchaus in Assoziationsnähe gelegenen Adel (oder Adle) kein Fürst, sondern ein Gastronom. Wenn nicht gar ein Wiesnwirt. Auch ist es so, dass im Marstall-Zelt nach erstem Augenschein eher keine Pferde, sondern Gäste verkehren. Wobei sich zu später Stunde mitunter zeigt, dass manche Gäste das Zelt nach Pferdeart als Tränke missverstehen.

Ein Zelt ist der Marstall auch nicht wirklich. Konstruktiv und bautypologisch ist er, da es sich um eine temporäre Architektur handelt, die zerlegbar und transportabel ist, schon ein Zelt. Phänotypisch aber müsste er dann auch als solches im Sinne guter, im Wortsinn "wahrer" Baukultur erkennbar sein - also zum Beispiel einer Jurte, einem Tipi, einem Beduinenzelt oder wenigstens dem bei Lidl für 44,99 Euro erhältlichen High Peak Pop-Up-Zelt Vezzano 2 ähnlich sein. Als Zelt gehörte der Marstall dann zu den archaischen Formen des menschlichen Schutzbaus und hätte sich verdient gemacht um die Baugeschichte seit dem Jungpaläolithikum.

Das Marstall-Zelt aber ist das, was die anderen Zelte auch sind. Robert Venturi, amerikanischer Architekturtheoretiker von Rang, hat dafür in seinem Standardwerk "Learning from Las Vegas" (1972) einen wunderbaren Begriff geprägt: den "dekorierten Schuppen". Das soll jetzt nicht die zutiefst bayerische Kunstform der Bier-Beherbergungsarchitektur diskreditieren, die auf ihre Weise ganz schön archaisch bis zivilisationsgeschichtlich bedeutsam ist. Aber jedwede Wiesn-Architektur ist im Idealfall eben genau das, was die Geisterbahn auch ist: ein dekorierter Schuppen, wo man sich eher an Mass, Hendl und Dirndl als an der Formvollendung von Architektur und Interior Design berauscht.

Deshalb zeigt zum Beispiel das Armbrustschützenzelt, was dabei herauskommt, wenn man eine Tiroler Skizirkushütte mit einem mittelalterlichen Türmchen aus dem Fränkischen zwangsvermählt. Oder das Fischer-Vroni-Zelt: Es sieht eigentlich kaum nach Fisch oder Vroni aus, dafür erinnert es an ein fachwerkhaft sich aufplusterndes Gestüt aus dem Münsterland. Eventarchitektur ist grundsätzlich frei darin, mehr Event als Architektur zu sein, beziehungsweise mehr Schein als Sein. In Ordnung. Weshalb man sich als Architekturkritiker gnadenvollerweise auch mehr um die Deko kümmern kann - und die grundsätzliche Schuppen-Baukunst der Zelte unkommentiert beiseite lassen darf.

Bei der Deko wird es interessant - auch, nein, gerade im Vergleich mit den angestammten Festzelten. Deren Wirte haben sich bekanntlich schwer damit getan, des Neuen, also Ables Wirte-Adel anzuerkennen - und zwar wegen eines Mangels an Alteingesessenheit und Traditionsgaststättenhaftigkeit. Was aber macht man, wenn einem der Adel den Zugang verwehrt? Man zeigt ihm, wie verarmt und verkommen er in Wahrheit doch ist; man unterstreicht die Überlegenheit des prosperierenden Bürgertums, das sich vor dahergelaufenem niederen Landadel nicht verstecken muss. Insofern hat man es nun doch wieder mit Fragen der Baukultur zu tun, weil die Innovationsgeschichte des bürgerlichen Wohnens ohne den brennenden Ehrgeiz von da unten, es denen da oben mal so richtig zu zeigen, gar nicht denkbar wäre.

Und deshalb hat Able auch kein etwas kleineres Groß-Festzelt entworfen, sondern ein gigantisches Wohnzimmer der Behaglichkeit, in dem man auch Feste feiern sowie feste trinken kann. Der Marstall ist ein Schritt in Richtung Verwohnzimmerisierung der Wiesn. Das kann man begrüßen - oder, je nach Neigung zum ausgelassenen Feiern, auch nicht.

Dabei gibt es auf der ganzen Wiesn kaum stabilere Tische als die im Marstall, weshalb sich hier auch sehr schön zeigt, dass Siegfried Able möglicherweise zwar kein Traditionsgastronom, dafür aber gelernter Schreiner ist. Materialität und gediegene Wertigkeit, ja Qualität, das sind für ihn keine Fremdworte - und das macht sich bemerkbar im schreinergemäß ambitioniert möblierten Wohnzimmer-Zelt. Able klopft auf einen der Tische und sagt: "40 Millimeter Kernesche". Das klingt stolz. Zu Recht. Da kann der Landadel mit seinen üblicherweise 27-Millimeter-Fichtenplatten nur staunen. Und dann ist das Auf-dem-Tisch-die-Sau-raus-lassen im Marstall ebenso verboten wie in allen anderen Zelten - obwohl es hier ungefährlicher wäre als an anderen, nur 27 Millimeter dicken Fichten-Orten.

Die 13-Millimeter-Differenz markiert gewissermaßen das innenarchitektonische Konzept, das aus dem Marstall ein besonderes Zelt machen soll: einen nicht nur rauschhaft-funktionalen, sondern wohnlichen Ort. Dazu gehören die Tischdecken, die garantiert eines nicht sein wollen: praktisch. Dazu zählen die (dann doch: praktischen) Anrichten auf den Tischen. Oder die Gestaltung der Sitzbänke, die sogar eine Seitenverkleidung besitzen - anders als herkömmliche, billige Garnituren.

Auch der Verzicht auf das übliche Dekorum wirkt sich positiv aus: Die Lüster, die in vielen Zelten wie riesenhafte Adventskränze tannenumrankt und weißblau sein müssen, sind hier schlicht und somit ansehnlich gestaltet. Und sonst? Die Eingangsfront des Hippodroms, eine Art Jugendstilfuror, war irrer - aber auch inspirierender, mehr Venturi eben; dafür ist die Farbgebung im Marstall beinahe elegant.

Dass es aber sprossenfensterhafte Riesenherzen sein müssen, die den Blick auf die nahe Pauls-Kirche freigeben? Dazu kann man nur sagen: Kitsch as Kitsch can. Das ist ein bisschen so wie mit dem Porzellanschwan, den man im ambitioniert designten Wohnzimmer entdeckt. Man tut am besten so, als habe man ihn nicht bemerkt.

Genau so übrigens wie die Unterseite der Quadriga, die einerseits an das Hippodrom und die Vorgeschichte der Wiesn als Pferderennen erinnert, was theoretisch gut zu einem Marstall passt, der kein Marstall ist; aber andererseits ist zu hören, das Vierergespann stehe für die Wirtsfamilie. Wäre dem so, hätte sich der Wirt dermaßen überdeutlich ausstatten lassen, dass von der gewollten Dignität an dieser Stelle keine Rede mehr sein kann. Ziehen wir aber übertriebenes Hengstgehabe und Sprossenherzlichkeit ab, so bleibt ein nach allen Regeln gut dekorierter Schuppen, der seine Sache gut macht: nämlich dem Wahnsinn ein wohnlicher Ort auf Zeit zu sein.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2014
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