Süddeutsche Zeitung

Lustspieloperette:Biss wie Bein

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"Märchen im Grand Hotel" ist eine jener wieder entdeckten Operetten von Paul Abrahams, denen Barrie Kosky in Berlin Kultstatus verschafft hat. Sein Choreograph Otto Pichler inszeniert sie am Staatstheater Nürnberg

Von Michael Stallknecht

Nach Corona, prophezeien ja manche, werde es zur einer Wiederauflage der Roaring Twenties, der wilden Zwanziger Jahre kommen. Falls das stimmt, liefert das Staatstheater Nürnberg davon mit Paul Abrahams "Märchen im Grand-Hotel" auf alle Fälle einen kräftigen Vorgeschmack. Denn der Regisseur und Choreograph Otto Pichler holt die 1934 in Wien uraufgeführte Jazzoperette in einer Weise in die Gegenwart, die alle nach neuen Zwanzigern röhrenden Herzen höher schlagen lassen: Da tobt das Tanzensemble als Steppformation, hüpfende Affen oder lebendes Werbeplakat für eine Bar über die Bühne, regnet es Glitter und Schnee und leiht auf Kommando der Mond der Liebe seinen Schein - das alles unter Aufsicht eines bühnenhohen Gorillas. Nicht weniger wandlungsfähig als das Bühnenbild von Jan Freese fallen im Kostümbild von Falk Bauer besonders die Roben der Damen aus, die wahlweise allzu üppig daherkommen oder etwas zu viel Haut erahnen lassen.

Gespielt wird mit maximalem, stark stilisiertem Körpereinsatz, das Tempo ist rasant und die Pointen werden eiskalt statt in alter Operettenmanier lauwarm serviert. Schließlich ist Otto Pichler der Leibchoreograph des Regisseurs Barrie Kosky, der exakt mit diesem Rezept in Berlin gerade auch den wiederentdeckten Operetten Paul Abrahams Kultstatus verschafft hat. Doch der schon länger auch selbst inszenierende Pichler liefert in Nürnberg deutlich mehr als nur eine gute Kopie seines Chefs. Dafür ist seine Fantasie viel zu eigenständig und überbordend; dem operettentypischen Herzschmerz gewährt er mehr Raum als der bisweilen übertourige Kosky, ohne sich dabei im Kitsch zu suhlen.

Dieses "Märchen im Grand-Hotel" lebt von etwas, das bis heute zum Beispiel das Märchen vom englischen Prinzen Harry und seiner amerikanischen Braut Meghan in den Schlagzeilen hält: der Faszination eines Adels, der reale politische und meist auch ökonomische Macht zwar längst eingebüßt hat, aber noch immer als Projektionsfläche taugt. In einem Grand-Hotel zu Cannes verliebt sich die entthronte spanische Infantin Isabella ausgerechnet in den Zimmerkellner Albert - worin wiederum Marylou, die aus Hollywood angereiste Tochter eines Filmmoguls, kaum zu Unrecht "a good story" wittert. Dass das Märchen damit zugleich zum Filmdreh wird, die Projektion also als solche thematisiert wird, macht den Ironievorsprung des brillant gebauten Librettos von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda gegenüber einschlägigen Boulevardgazetten aus.

Jede der Figuren führt hier ein richtiges Leben im falschen oder, je nach Perspektive, ein falsches im richtigen. Und das aus Musicaldarstellern, Opernsängern und Schauspielern gemischte Ensemble - auch das ein Berliner Erfolgsrezept - lässt daraus eine Reihe ziemlich unverwechselbarer Typen werden: Andromahi Raptis verleiht der spanischen Infantin die standesgemäße Herablassung wie den Melancholieflor empfundener Machtlosigkeit, Jörn-Felix Alt verwandelt den ewig gedemütigten Zimmerkellner in ein zappelndes Nervenbündel mit goldenem Herzen, und Maria-Danaé Bansen zeigt als unermüdlich tanzende, singende, spielende Marylou ebenso selbstbewusst Biss wie Bein. Dass sämtliche Darsteller von ihrer Schokoladenseite zur Geltung kommen, ist die größte Stärke von Pichlers Inszenierung.

Wie allein Jens Krause - um gemeinerweise nur noch einen zu nennen - den ebenso ehrpusseligen wie chronisch überforderten Hoteldirektor zeichnet, wäre eine eigene Lobeshymne wert. Die man freilich unbedingt ausdehnen muss auf Lutz de Veer, der im Graben bedingungslos sängerfreundlich und mit beeindruckendem Fingerspitzengefühl für Abrahams Stilmix dirigiert.

Dass er dabei immer den Zug, das Tempo des Ganzen im Auge behält, verwandelt selbst die Staatsphilharmonie Nürnberg in eine souveräne, wenn auch manchmal noch etwas zu wenig lässige Jazzkombo. Schlechte Zeiten, sagt man, seien gute für die Unterhaltung. Den Beweis dafür hätte das Staatstheater Nürnberg jedenfalls erbracht.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2021
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