Süddeutsche Zeitung

Literaturszene:Die Neue Technik des Lesens

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Ob Buchhandlung oder Festival: Die Literaturveranstalter planen mit unterschiedlichen Strategien für die nähere Zukunft - viele setzen auf hybride Formate, das Literaturhaus München hat sogar ein Studio eingerichtet

Von Antje Weber

Der Saal des Literaturhauses ist kaum wiederzuerkennen. Eine enorme LED-Wand verdeckt die Fensterfront fast ganz, Gestänge überzieht die Decke; im kleinen Forum nebenan entsteht ein Regieraum voller Geräte. Sehr viel teure Studiotechnik ist hier aufgebaut, sie soll am 1. Juli erstmals zum Einsatz kommen - bei einer sogenannten Hybrid-Lesung mit dem Sänger und Autor Rolando Villazón, die 50 Besucher vor Ort und potenziell Tausende im Stream erleben können. Denn der Literaturhaus-Leiterin Tanja Graf ist in den vergangenen Monaten immer stärker bewusst geworden: "Wir müssen kreativ sein und überlegen, wie wir unser Haus retten."

Mit solchen Überlegungen ist sie in diesen Wochen der vorsichtigen Lockerungen natürlich nicht allein. Fragt man Literaturveranstalter in München und Bayern nach ihren Strategien für die nähere Zukunft, merkt man allerdings: Angesichts einer wohl noch länger andauernden Planungsunsicherheit - das am häufigsten fallende Wort - kommen nicht alle zu denselben Schlüssen. Die vielen Absagen und die wechselnden Ansagen seit März haben ihre Spuren hinterlassen; und während sich insbesondere die Institutionen zunehmend wieder ans Planen wagen, wirkt zum Beispiel ein Buchhändler eher vorsichtig.

Eine, die sich zumindest mittelfristig Planungssicherheit geschaffen hat, ist Tanja Graf. Ihre neue Kooperation mit mehreren Veranstaltungstechnik-Firmen kann man als Glücksfall werten: Die Firmen stellen bis voraussichtlich Ende Oktober ihre Technik zur Verfügung und können den Saal im Austausch für eigene Events nutzen. Das ermöglicht es dem Literaturhaus, Lesungen in jedem Fall stattfinden zu lassen, unabhängig vom Stand der Abstandsregeln - und sie nicht nur "unprofessionell mit dem Handy abzufilmen". Einspieler, diverse Kameras sollen den Stream-Zuschauern mehr als ein diffuses Live-Gefühl bieten, eher eine Art Fernseherlebnis.

Und dafür sollen die Nutzer, anders als bisher meist üblich, auch etwas zahlen. Denn Lesungen und Gespräche kostenlos auf die Webseite zu stellen, wie es etwa das Berliner Literaturhaus macht, "können wir uns nicht leisten", sagt Graf. Es seien ja unter anderem Honorare und Reisen zu bezahlen, bei weniger Ticket-Einnahmen; auch die Umsatzpacht der Brasserie und das Vermietungsgeschäft sind eingebrochen. Die Stiftung Literaturhaus, die in einer Public-Private-Partnership nur zum Teil von der Stadt finanziert wird, erwartet in diesem Jahr 800 000 bis eine Million Euro Mindereinnahmen. Was bedeutet: "Wir können nicht alles umsonst machen."

Einen anderen Weg wählt das Literaturarchiv Monacensia, das zur Münchner Stadtbibliothek gehört: Hier soll das Programm weiterhin kostenlos bleiben. Die Monacensia geht bei ihren Live-Veranstaltungen im Juli allerdings kein hohes Risiko ein: Nur bei schönem Wetter sollen junge Münchner Autoren wie Alex Burkhard einmal wöchentlich den Garten bespielen. Für September plant das Team um Anke Buettner dann wieder analoge oder hybride Lesungen drinnen; in den vergangenen Wochen gesammelte digitale Erfahrungen will man dabei einbringen.

Auf solche Experimente mit Facebook-Streams und Blogs hat das Lyrik Kabinett bisher verzichtet. Mit einem "Zwiesprachen"-Vortrag Max Czolleks, der in Zusammenarbeit mit der Israelitischen Kultusgemeinde am 6. Juli online geht, will man nun wieder sichtbar werden. Hörbar ist ohnehin einiges; auf der Plattform dichterlesen.net sind immer mehr Archivaufnahmen abrufbar. "Es geht weiter", kommentiert Leiter Holger Pils die auch hier nicht ganz einfache Lage, "finanziell ist es eine Herausforderung". Dennoch planen auch Pils und sein Team "zweischrittig" wieder Veranstaltungen. Mitte Juli sollen zunächst die Mitglieder in den Genuss eines Lesefests kommen - wenn auch nur für die zehn Minuten, die jeder Besucher ganz allein einem Dichter wie zum Beispiel Albert Ostermaier oder Karin Fellner lauschen darf. Von September an soll es auch hier hybride Veranstaltungen geben. Denn wie jeder bestätigen kann, der je das Lyrik Kabinett betreten hat: "Wir haben eben einen sehr kleinen Raum!" Lesungen vor nur 20 zahlenden Gästen sollen daher als Podcast kostenlos nachzuhören sein.

Ein sehr kleiner Raum - das ist auch ein Problem der Schwabinger Buchhandlung Lehmkuhl sowie vieler anderer Läden, die Autoren einladen. Aufs Jahr verteilt organisiere man sonst 30 bis 35 Lesungen, so Geschäftsführer Michael Lemling. Derzeit allerdings dürfen sich nur 28 Kunden gleichzeitig im Laden aufhalten, ein Kunde pro zehn Quadratmeter. Da die Lesungen nur im vorderen Bereich stattfinden, könne man neben Autor und Moderator also fünf Zuhörer einlassen, rechnet Lemling vor. Selbst wenn im Herbst die Quadratmeter-Regelung entfalle und nur noch anderthalb Meter Abstand nötig seien, käme man nur auf zehn Zuhörer: "Das macht keinen Sinn, und bezahlbar ist es auch nicht." Woraus folgt: "Aus dem Veranstaltungsgeschäft sind wir für dieses Jahr komplett raus." Mit rein digitalen oder hybriden Formaten möchte Lemling nicht experimentieren. So schade es auch sei, konzentriere man sich für eine Weile doch lieber auf das Kerngeschäft, den Buchverkauf: "Diese Aufgabe ist anspruchsvoll genug."

Auch ein junger Literaturveranstalter wie Tristan Marquardt, dem man vielleicht mehr Lust auf digitale Experimente zutrauen könnte, switcht nicht so einfach um. "Literaturveranstaltungen sind soziale Praxis, sie brauchen den Austausch, unerwartete Begegnungen, viel Publikum und keine Sperrstunden", findet er. Wie zum Beispiel bei einem Großen Tag der jungen Münchner Literatur, der im Herbst mit mehr als 70 Autorinnen und Autoren im Kreativquartier hätte stattfinden sollen. Hätte. Denn Marquardt und seine Teams haben keine Lust auf Veranstaltungen "mit wenigen Leuten, stundenlangem Maskentragen und großen Abständen".

Der große Tag soll daher erst im nächsten Frühjahr oder Sommer kommen. Ganz zu schweigen von anderen Reihen, für die noch keine neuen Termine feststehen, wie zum Beispiel "Sperrsitz" bei Literatur Moths oder "Meine drei lyrischen Ichs". Eine Geduldsprobe, so Marquardt, und "leider für viele auch ein großes finanzielles Risiko". Zur Unsicherheit kommt einiges Unverständnis: "Wir sehen ein, dass man nichts überstürzen sollte, aber wir sehen nicht ein, dass die Kultur politisch mal wieder sehr spät bedacht wurde und wird." Seine Stimmung? "Verzweiflung wäre zu kräfteraubend, der Blick geht nach vorne."

Säße neben ihm jetzt der Festivalveranstalter Thomas Kraft aus Herrsching, er würde wahrscheinlich nicken. Kräfteraubend waren die vergangenen Monate für ihn ohnehin. Kraft organisiert seit Jahren bayernweit Literaturfestivals; dazu die Bücherschau innerhalb des Literaturfests München, das übrigens im November auf alle Fälle stattfinden wird - das mal als gute Nachricht zwischendurch. Vier Festivals hat Kraft jedoch dieses Jahr absagen oder verschieben müssen. Die Ingolstädter Literaturtage: komplett abgesagt. Die Festivals in Nordschwaben und im Allgäu: verschoben ins nächste Jahr. Das Mainfränkische Festival in Würzburg: abgebrochen, ein Teil soll nachgeholt werden. Viel Organisationsarbeit, von den finanziellen Verlusten nicht zu reden: "Es ist sehr viel aufwendiger, ein Festival rückwärts abzuwickeln, als es zu planen", sagt Kraft. Immerhin: "Dachau liest" im Oktober soll - analog - stattfinden, ebenso wie eine Literaturreihe in Fürstenfeldbruck. Analoge oder hybride Lesungen in großen Räumen sieht Kraft überhaupt als eine der wenigen Optionen für den Herbst. Oder einen Schichtbetrieb, also zwei kürzere Lesungen eines Autors hintereinander an einem Abend.

Einfach wird das alles nicht. Vielleicht genau deshalb will die Literaturhaus-Leiterin Tanja Graf nicht aufhören zu träumen. Schon seit längerem entwickelt sie zusammen mit unter anderem dem Architekturbüro Kiessler in einer Machbarkeitsstudie Visionen. Damit das Literaturhaus auch in Zukunft attraktiv bleibe, müsse man vor allem baulich einiges ändern: Eine für die Besucher leichter zu findende Eingangshalle gehört zu den Ideen, mehr Durchlässigkeit zwischen Gastronomie und Ausstellungssaal. Auf dem ruhigen Salvatorplatz hinter dem Haus ließe sich außerdem ein Amphitheater als Sommerbühne errichten. Von dort aus könnten die Besucher dann leicht in Serviceräume unter der Erde gelangen - unter dem Platz wurde nämlich eine alte Bunkeranlage gefunden, die sich umwandeln ließe. Ganz abgesehen von der Dachterrasse mit Ökogarten, die Tanja Graf schon länger vorschwebt.

Alles utopisch in diesen Zeiten? Oder ist es gerade jetzt richtig, vieles neu zu denken? Tanja Graf will der Studie jedenfalls den derzeit oft zitierten Satz von Giuseppe Tomasi di Lampedusa voranstellen: "Es muss sich alles ändern, damit es bleiben kann, wie es ist." Und dafür braucht es, als erstes, nun mal einen Traum.

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SZ vom 30.06.2020
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