Süddeutsche Zeitung

Literatur:Schwankend durch die Nacht

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Thorsten Nagelschmidt, Sänger und Gitarrist von "Muff Potter", stellt seinen Roman "Arbeit" im Backstage vor

Von Jürgen Moises, München

Berlin ist eine Stadt, um zu scheitern. Das hat die Historikerin Karin Wieland kürzlich gesagt. In einem Gespräch über ihren gemeinsam mit Heinz Bude und Bettina Munk geschriebenen Roman "Aufprall" über die West-Berliner Hausbesetzer-Szene der Achtzigerjahre. Dass dieser Sog des Scheiterns nicht nur heute, sondern auch 2022 weiterwirkt, das zeigt Thorsten Nagelschmidts Roman "Arbeit". Darin stehen "die Schwankenden, die latent Überforderten" im Zentrum. Oder die, die "irgendwann von irgendwoher mit irgendwelchen Erwartungen in diese Stadt gekommen" sind und sich nun irgendwie durchschlagen. Nur: "Manchmal geht man eben zu Boden."

Das Schwanken, sich Durchschlagen, das dürfte in Corona-Zeiten nicht nur den Berlinern vertraut sein. Wobei Nagelschmidt beim Schreiben seines Romans, den er nun im Backstage vorstellt, nicht ahnen konnte, dass ein Virus das gesamte Nachtleben lahmlegen wird. Dieses bildet den Schauplatz für das Buch des in Berlin lebenden Schriftstellers, den man auch als Sänger, Gitarrist und Texter der Punk-/Alternative-Rock-Band Muff Potter kennt. Aber das heißt nicht, dass man mit Party-Klischees bedient wird. Im Gegenteil geht es um das, was die Berliner Nächte eben auch für viele bedeuten: Arbeit.

Es ist die Nacht vom 18. zum 19. März 2022, in der sich die Figuren als Taxifahrer, Dealer, Notfallsanitäterin, Fahrradkurierin oder Späti-Verkäuferin durchschlagen. Sie alle tun das mehr schlecht als recht, leiden an ihrem Job, Schlafmangel, ihren gescheiterten Träumen. Fast alle haben sich ihr Leben anders vorgestellt, nachdem sie aus der Provinz, der DDR oder Afrika nach Berlin geflohen sind. Manche haben noch Pläne, wie die Sanitäterin, die eigentlich Ärztin werden will. Andere wollen nur ihre Schulden abbezahlen. Oder verticken Drogen, weil sie nach einer dreifachen Odyssee übers Mittelmeer als Asylsuchende nichts arbeiten dürfen.

All diese Geschichten reiht Nagelschmidt episodisch aneinander, lässt sie aber auch ineinanderfließen. Er macht das sehr virtuos und realitätsnah. Und tatsächlich hat er für das Buch mit zahlreichen Vertretern des Berliner Nachtarbeiterlebens gesprochen. Als literarischen Einfluss nennt er "Manhattan Transfer" von John Dos Passos, oder auch die neuere französische Literatur. Wobei er in Interviews oft darauf verweist, dass er, was Literatur betrifft, vieles erst nachholen musste.

Denn seine erste Schule war der Punk, den er von 1993 bis 2009 bei Muff Potter ausgelebt hat. Danach lag die Band auf Eis, unter seinem Kurznamen Nagel schrieb er zwei autobiografische Romane und im April überraschten Muff Potter, die als ewiger Geheimtipp im Schatten von Bands wie Tocotronic standen, mit einer neuen Single. Tatsächlich finden sich auf Muff-Potter-Alben wie "Bordsteinkantengeschichten" (2000) oder "Gute Aussicht" (2009) ganz ähnliche Motive. Von Narben, Niederlagen, Landflucht ist die Rede. Und in "Ich bin charmant" heißt es: "Ich bin unheimlich erfolgreich beim Scheitern." Man darf ergänzen: Er ist auch sehr gut darin, vom Scheitern zu erzählen.

Thorsten Nagelschmidt: "Arbeit" (S. Fischer), Lesung am Do., 29. Oktober, 19 Uhr, Backstage, Reitknechtstr. 6

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Quelle:
SZ vom 29.10.2020
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