Süddeutsche Zeitung

Literatur:Der Familienpuzzler

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Als Drehbuchautor weiß der Münchner Daniel Speck, wie man eine faszinierend bilderreiche Geschichte erzählt. Mit "Jaffa Road" hat er vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts einen Roman mit überraschenden Wendungen geschrieben

Von Martina Scherf

In einer Villa in Palermo treffen drei Menschen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Nina, Archäologin aus Berlin, ist gekommen, um das Erbe ihres Großvaters Moritz anzutreten. Aus Paris reist ihre jüdische Tante Joëlle an. Und plötzlich taucht da noch ein weiterer Erbe auf: Elias, ein Palästinenser, von dem die beiden Frauen noch nie gehört haben, der aber behauptet, Moritz' Sohn zu sein.

Ihre Spurensuche in dem alten Haus wird zu einer Reise in Moritz' Vergangenheit. Dieses seltsamen Mannes, der drei Frauen liebte und mehrere Leben lebte, ohne je eine Heimat zu finden. "Denn jemanden zu lieben, bedeutet nicht, ihn auch zu verstehen." Da sitzen sie nun, die drei Erben, vom Schicksal verbunden, und beginnen, das Puzzle Stück für Stück zusammenzufügen, indem sie sich gegenseitig ihre jeweilige Familiengeschichte erzählen. Aus anfänglichem Misstrauen wächst mit der Zeit Vertrauen. Und als Leser folgt man ihnen mit wachsender Spannung zu den Schauplätzen ihrer Geschichte zwischen Tunis, Haifa und Berlin.

Daniel Speck legt mit "Jaffa Road" erneut einen temporeichen Episodenroman vor, der diesmal vor dem Hintergrund des Nahostkonfliktes spielt. Er wechselt mit jedem Kapitel die Perspektive, fasst die Zweifel und Selbstbefragungen seiner Protagonisten in eindringliche Dialoge und hält den Spannungsbogen bis zur letzten Seite. Ereignisse aus dem Geschichtsbuch werden lebendig, weil der Autor ihnen Namen und Gesichter verleiht. Und von Seite zu Seite wird immer deutlicher spürbar, was Politik im Alltag der Menschen anrichtet. Auch was es bedeutet, den falschen Pass oder eine andere Hautfarbe zu haben. Ganz nebenbei lernt man auch noch etwas über den Unterschied zwischen Mizrachim und Ashkenazim, orientalischen und europäischen Juden, oder die Etymologie des Wortes Orange. Denn Jaffa, das ist die Stadt der Orangen.

Ganz in der Nähe kommt Joëlle 1947 mit ihren Eltern auf einem Auswandererschiff an, das Herz voller Sehnsucht nach einer friedlichen Zukunft. Auch Elias' Mutter ist damals noch ein Kind. Deren Familie verliert im Bürgerkrieg zwischen Arabern und Juden alles. Sie werden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Als Elias' Großvater sich eines Nachts aus dem Flüchtlingslager in Bethlehem schleicht, um sein Haus, in dem jetzt jüdische Einwanderer wohnen, noch einmal zu sehen, riskiert er sein Leben. Nur der Duft der Orangen aus seinem Garten weht noch immer durch die Straßen.

Speck schildert in nüchternem Ton Massaker, Plünderungen und Attentate. Er beschreibt die Auswirkungen des Sechs-Tage-Krieges auf den Alltag der Menschen. Er lässt Elias' Mutter 1972 als linke Studentin in München das Olympiaattentat der PLO miterleben. Doch die historischen Fakten bilden nur den Hintergrund für eine Geschichte, die vielmehr von den Überlebensstrategien seiner Protagonisten erzählt, von Liebe, Freundschaft und zerstörtem Vertrauen. Indem Speck immer wieder den Blickwinkel wechselt, vermeidet er die Gefahr, einem einseitigen Narrativ zu folgen. "Denn letztlich", sagt der Autor, "ist es doch mit einem Land wie mit einer Familie: Jeder erinnert sich anders." Und mindestens genauso viel wie gerahmte Urkunden und strahlende Hochzeitsbilder zählt das, was weggelassen wird: die Leerstellen. "Irgendwann wird aber jeder erwachsen und muss sich die Frage stellen, wer er selber ist, jenseits von Herkunft, Familie, Nation."

Man kann "Jaffa Road" als eigenständigen Roman lesen. Doch er schließt an seinen Vorgänger "Piccola Sicilia" an. Dort stellte Speck seinen Moritz Reincke erstmals vor, einen deutschen Wehrmachtsoldaten, der als Kameramann die Einheiten von General Rommel in Nordafrika begleitete. Er rettet einem jungen Juden das Leben, desertiert, als die Alliierten näher rücken, und wird zum Dank von den Eltern des Juden versteckt. Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Speck hat das Buch diesem deutschen Soldaten, Richard Abel, gewidmet. Auch dass Araber Juden vor den Nazis versteckten, wie er im Roman beschreibt, war keine Seltenheit, sagt er. "Solche unbekannten Geschichten möchte ich vor dem Vergessen bewahren."

Der Plot war von Anfang an für zwei Romane konzipiert. "Mir war klar, dass diese Geschichte ihre Fortsetzung in Palästina und Israel finden müsste." Und so verliebt sich Moritz in Tunis in die Adoptivschwester des geretteten Juden, heiratet sie und nimmt ihren Namen an. Nach Berlin, zu seiner schwangeren Verlobten, will er nicht zurück. Mit seiner jüdischen Frau, deren kleiner Tochter Joëlle und einem gefälschten Pass besteigt er ein Auswandererschiff nach Palästina. In Haifa, in der Jaffa Road, beginnt ihr neues Leben.

Die Handlung in "Jaffa Road" ist rein fiktiv. Und so unwahrscheinlich die Häufung von Zufällen und Verstrickungen in Moritz' Leben auch erscheint, so plausibel wirken in sich die einzelnen Episoden. Wobei: Das Leben wartet ja immer wieder mit den verrücktesten Geschichten auf. Speck stieß bei der Recherche auf einen Bericht über einen SS-Mann, der tatsächlich später mit neuer Identität in Israel lebte. Der Autor hat Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete monatelang bereist, mit Historikern, Journalisten, Politikern gesprochen. Er hat koscher und halal gegessen, Menschen blätterten ihm seine Fotoalben auf und erzählten ihm ihre Geschichten. Diese intensiven Recherchen bilden das Fundament des Romans. Als Drehbuchautor weiß Speck, aus diesem Stoff ein filmreifes Drama zu schaffen. Für seinen Film "Meine verrückte türkische Hochzeit" erhielt er den Grimme-Preis und den Bayerischen Fernsehpreis. Sein Romandebüt "Bella Germania" wurde fürs ZDF verfilmt. Und auch dieses Buch erzeugt Bilder, die lange vor dem inneren Auge bestehen. Das Flüchtlingsschiff, die Bäckerei in der Jaffa Road oder Joëlles wahrer Vater mit seinem Citroen DS, wie er lässig an der Kühlerhaube lehnt, in der Gewissheit, die Geschichte auf seiner Seite zu haben.

Das Mittelmeer verbindet seit jeher die Kulturen an seinen Küsten. Für Daniel Speck, 1969 in München geboren, hat es eine besondere Bedeutung. Nicht nur, weil er in Rom Filmgeschichte studiert hat. "Dass Cinecittà am Ende des Zweiten Weltkrieges zum Flüchtlingslager wurde, wusste ich damals noch nicht", sagt er. Sondern auch wegen der Leerstelle in seiner eigenen Familie. Sein Vater war ein tunesischer Arzt, er hat ihn nie kennengelernt.

Erst als Erwachsener reiste Speck das erste Mal nach Tunis - und erlebte eine Stadt mit multikultureller Vergangenheit, deren Spuren noch heute überall sichtbar sind. Italiener, Franzosen, Juden und Araber wohnten Tür an Tür, vor allem im Hafenviertel Piccola Sicilia. Und so steht über beiden Büchern die Frage: Warum werden aus Nachbarn Feinde? Und was muss passieren, damit diese Kluft überwunden wird? Vielleicht sich an einen Tisch setzen wie Nina, Joëlle und Elias, sich darüber streiten, was in ein echtes Hummus gehört, und sich dann gegenseitig seine Geschichte erzählen. Das wäre zumindest ein Anfang.

Daniel Speck stellt seinen Roman im Gespräch mit Jan Weiler am Freitag, 26. März, um 20 Uhr im Literaturhaus vor. Publikum im Saal ist wegen Corona nicht zugelassen. Tickets für den Live-Stream gibt es unter www.literaturhaus-muenchen.de

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SZ vom 26.03.2021
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