Süddeutsche Zeitung

40 Jahre Gebietsreform:"Wir müssen groß denken"

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Die Stadtplanerin Sophie Wolfrum hält die Pläne für eine neue Ortsmitte in Kirchheim für gescheitert, bevor diese überhaupt gebaut ist. 40 Jahre nach dem Zusammenschluss der beiden Ortsteile plädiert sie und fordert mehr Mut bei der Entwicklung neuer Wohnformen.

Interview von Christina Hertel

Trauerflor hängt am Heimstettener Ortsschild, als am 1. Mai 1978 die Gebietsreform in Kraft tritt. An diesem Tag wird aus beiden eigenständigen Gemeinden Kirchheim und Heimstetten eine Kommune. Wer das schwarze Band dort aufhängte, ist nicht bekannt. Dem Gemeinderat jedenfalls blieb nicht viel Zeit zur Trauer. Schon in der ersten Sitzung befasst er sich mit einem Thema, das die Gemeinde bis heute beschäftigt. Wie können die beiden Ortsteile zusammenwachsen? Wie kann eine Mitte aussehen? Es gab Bürgerworkshops, Architektenwettbewerbe, viele Pläne. 40 Jahre nach dem Zusammenschluss, ist klar: Es wird gebaut. Ein 100 000 Quadratmeter großer Ortspark, ein Gymnasium, ein Rathaus, Kinderbetreuungseinrichtungen und Wohnbebauung. Sophie Wolfrum, Expertin für Städtebau und Regionalplanung, erklärt, was sie von den Plänen hält.

Ist aus Ihrer Sicht die Planung für die Kirchheimer Ortsmitte - mit Park, Gymnasium, Rathaus, Wohnbebauung - zukunftsträchtig?

Sophie Wolfrum: Zunächst muss man sagen: Die Aufgabe, die beiden Orte zusammenwachsen zu lassen, ist ungeheuer schwierig. Aber ich glaube nicht, dass das durch eine Wohnsiedlung passieren kann. Und wenn ich auf diesen Plan gucke, sehe ich genau das. Reihenhäuser, Gärten, Zeilenbauten. Eine echte neue Mitte ist offensichtlich nicht gewollt. Da ist sogar das Zentrum im Heimstetten interessanter, obwohl ich das jetzt auch nicht in den Himmel preisen möchte.

Die Gemeinde hat sich für den Park entschieden - um keine Konkurrenz für die alten Ortskerne zu schaffen. Können sie diesen Gedanken nachvollziehen?

Ja natürlich. Die Gemeinden denken: Wir sind nicht München, wir sind Dörfer. Aber eigentlich stimmt das gar nicht mehr. Die Menschen in Kirchheim sind Bewohner einer großen, städtischen Region. Der neue Leiter der Stadtentwicklung in München sagt: "München hat so ein kleines Stadtgebiet, wir können den Wachstumsdruck von 300 000 Einwohnern bis 2030 gar nicht alleine bewältigen. Wir müssen mit den Umlandgemeinden kooperieren." Und dann schauen wir auf diese Planung und sehen: Die Gemeinden wollen das gar nicht.

Müsste Kirchheim mutiger sein?

Ja. Wenn man sich dem Wachstum dieser Region stellen will, kann man nicht Siedlung neben Siedlung kleckern. Was sind denn die beliebten Viertel in München? Giesing, Lehel, Schwabing! Dort, wo es eine Stadt gibt. Und in dieser Planung für Kirchheim haben Sie nicht einmal einen Bäcker im Erdgeschoss. Die Straßen sind nur dazu da, um zu den Häusern zu kommen. Die Häuser zeigen den Hauptstraßen kein Gesicht. Da passiert kein soziales Leben, da werden keine Menschen aus den Fenstern schauen und sich denken: "Oh, was ist denn da auf meiner Straße los?"

Wie könnte man die Pläne retten?

Gar nicht, da bin ich knallhart. Man müsste einen neuen Entwurf machen. Ein bisschen was retten könnte man vielleicht, wenn man die Wohnformen stark mischt. Also dass man nicht nur Reihenhäuser baut, sondern auch unterschiedliche Wohnungstypen dazwischen, damit Leute einziehen, die unterschiedlich alt sind. Sonst bekommt man ein Problem, das in vielen Neubausiedlungen herrscht: Eine Kohorte von Menschen zieht ein, nach 15 Jahren sind alle Kinder weg und dann wohnen da plötzlich nur noch alte Leute.

Wie könnte man solchen Siedlungen wieder ein Gesicht geben?

Ich glaube, dass man solche Siedlungen heute ganz einfach nicht mehr bauen sollte, zumindest nicht hier in der Region München. Ich kann es verstehen, dass Leute in Einfamilienhäusern leben wollen. Ich kenne auch viele Menschen, für die es ein Traum ist, so ein kleines Haus zu haben. Aber ich finde, das ist bei einem derart starken Wachstumsdruck keine Lösung. Da kriegt man nicht die Menge an Menschen unter, die hierher ziehen.

Dann dürfen eben nicht mehr so viele Menschen nach München ziehen, würde Ihnen nun vielleicht jemand entgegnen, der schon lange hier wohnt.

Wie soll das gehen? Wir können ja nicht einfach die Burgtore hochklappen. Die Frage ist doch, wie man mit dem Wachstum umgeht, das eine Folge einer erfolgreiche Entwicklung der Stadt ist.

Sie sagten einmal, dass München noch einmal einen Wurf wie Neuperlach bräuchte.

Ich meinte nicht, dass man Neuperlach noch einmal ganz genauso bauen sollte. Das ist ja ein typischer Entwurf aus den Sechziger-, Siebzigerjahren. Heute würde man das natürlich anders machen. Aber ich finde es gut, was man damals vorhatte. Nämlich ein Quartier mit 60 000 Arbeitsplätzen und 80 000 Einwohnern. Nicht kleckern, sondern klotzen. Damals war man sich bewusst: Die Stadt wächst so stark, wir müssen groß denken. Und ich glaube, das ist wieder so.

Wenn ein typischer Kirchheimer das Stichwort Neuperlach-Süd hört, hat er allerdings eine Horrorvision vor Augen.

Die CSU macht ja Politik mit dieser Horrorvision. Sie stellt zum Beispiel in Bogenhausen überall Schilder auf, auf denen steht: Kein Plattenbau, sondern Gartenstadt. Aber wer wird denn heute Plattenbau errichten? Das ist ein Klischee, das nur Ängste bedient.

Tut sich München besonders schwer damit, sich von der Vorstellung zu verabschieden, ein großes Dorf zu sein?

Nein, das ist überall so. Menschen möchten, dass ihre Stadt so bleibt, wie sie sie kennen und lieb gewonnen haben.

Wie kann man diesem Druck begegnen? Mehr Hochhäuser bauen?

Ich glaube, dass Hochhäuser nicht die Lösung sind. Da entsteht zwar viel Wohnfläche, aber das Bauen ist teuer - durch Brandschutz, durch ein zweites Treppenhaus. Effektiv wären fünf bis sieben Geschosse mit einzelnen Gebäuden wie an der Schwanthalerhöhe mit 13, 14 Etagen.

Viele Gemeinden jedoch finden schon drei oder vier Stockwerke zu hoch und zu massiv. Wie könnte es aus Ihrer Sicht gelingen, diese Haltung zu ändern?

Das ist eine politische Frage, keine stadtplanerische. Das Problem ist: Die meisten Menschen haben generell Angst vor Veränderung. Einmal sagte ein Mann zu mir: "Ich kriege bald einen Herzinfarkt und Sie sind daran Schuld." Weil wir einen Park vor seiner Haustür gebaut haben. Als der Park fertig war, kam der Mann wieder zu mir und entschuldigte sich. Ich glaube, man muss den Menschen das Gefühl geben, dass man ihnen nicht einfach etwas vor die Nase knallt. Dass man den Charakter ihres Ortes erhalten möchte. Es ist ja auch gut, wenn man Orten ihre Geschichte ansehen kann. Gleichzeitig verändert sich die Welt um uns herum und darauf müssen wir reagieren.

Zurück zur Kirchheimer Ortsmitte. Sie haben 2011 auch selbst einen Entwurf eingereicht.

Wir hatten in der Mitte einen See geplant und drumherum Wohnungen und Infrastruktur. Gucken Sie sich Hamburg an, die Binnenalster ist die beste Lage. So etwas wollten wir hier auch schaffen und dachten, das könnte am Ende ein richtiger Knüller sein.

Stehen Sie immer noch hinter der Idee?

Wir haben nicht geprüft, inwiefern es realisierbar wäre. Bis ein See ausgegraben ist, dauert es lange. Und es soll nicht so sein, dass eine ganze Generation an der Kiesgrube wohnt. Die Grundidee, eine leere Mitte stark zu machen, um die sich beide Orte orientieren, finde ich immer noch richtig. Kirchheim und Heimstetten hätten sich einander zugewandt. Bei einem Park ist das im Prinzip auch so. Aber dieser ist so schmal, dass man sich schon anstrengen muss, um ihm genügend Kraft zu geben.

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Quelle:
SZ vom 28.05.2018
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