Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:"Da geht es ums Verhungern"

Lesezeit: 4 min

Die Arbeit der Wohnungsnotfallhilfe des Awo-Kreisverbandes wird in Corona-Zeiten zusätzlich erschwert, weil die Notleidenden mangels persönlichem Kontakt das Vertrauen verlieren und sich zurückziehen.

Von Claudia Wessel, Landkreis

Viel Mühe und Arbeit hatte die Einigung mit dem Vermieter gekostet. Die Mitarbeiter der Wohnungsnotfallhilfe der Arbeiterwohlfahrt (Awo) hatten alles getan, um ihrem Klienten trotz aller Schwierigkeiten zu ermöglichen, in seiner Wohnung zu bleiben, die Mietschulden in Raten abzuzahlen und damit zu erreichen, dass der Vermieter von seiner Räumungsklage absieht. Es fehlte nur noch eines für den erfolgreichen Abschluss: die Unterschrift des Klienten. Doch als der Vertrag vor ihm lag, sagte er: Nein. Er wollte nicht unterschreiben. Wieso? Stefan Wallner, Leiter der Wohnungsnotfallhilfe des Awo-Kreisverbandes München-Land, zuckt mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Ihm war plötzlich einfach alles egal."

Dieses Beispiel aus den Zeiten vor der Coronakrise zeigt, dass die Arbeit der Wohnungsnotfallhilfe immer schwierig ist, auch ohne Kontaktbeschränkungen und Krankheitsängste. Wer in Gefahr ist, seine Wohnung zu verlieren, ist immer im Stress und psychisch anfällig und reagiert oftmals alles andere als durchdacht und realistisch. Rund 1900 Fälle bearbeitete man im Jahr 2019 in der Wohnungsnotfallhilfe im Landkreis. Bei etwa der Hälfte davon konnte man die Beratung und die Formalitäten digital oder am Telefon lösen. Die andere Hälfte aber war psychisch derart angeschlagen, dass nur persönlicher Kontakt sie dazu bringen konnte, überhaupt etwas zu tun. Dieser Kontakt fiel im März beim ersten Lockdown von einem Tag auf den anderen weg.

Mit den Klienten, die man schon kannte, konnte man andere Lösungen finden, berichtet Wallner. Doch einen neuen Klienten zu beraten ohne ihn persönlich kennenzulernen und sein Vertrauen von Angesicht zu Angesicht zu gewinnen, war in vielen tragischen Fällen unmöglich. Die Zahl der Beratungen ist in 2020 noch nicht wesentlich gestiegen, sagt Wallner, das werde wohl erst im nächsten Jahr passieren, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Krise neue Wohnungsverluste produzieren würden. Aber die Abwicklungen an sich sind in diesem Jahr seit März viel schwieriger und langwieriger geworden, so Wallner.

Erschwernisse durch die Coronakrise

"Eine erfolgreiche Betreuung braucht intensive Beziehungsarbeit", sagt Wallner. Die Mitarbeiter der AWO müssen Vertrauen gewinnen, motivieren, immer wieder Mut machen, den nächsten Schritt zu gehen - unmöglich am Telefon, auch via Skype geht das nicht, sagt Wallner. Denn das, wozu man die Klienten bringen möchte, sind schwierige Dinge für jemanden, der gerade verzweifelt ist. Den Vermieter anrufen und um Aufschub bitten. Zum Jobcenter gehen und finanzielle Hilfe beantragen. Formulare ausfüllen, Frustration und Entmutigung überwinden, den sozialen Absturz ertragen ohne aufzugeben - eben einfach ans Licht am Ende des Tunnels zu glauben.

Diese Ermutigung der Betroffenen, diese Hilfe zur Selbsthilfe zu erreichen, ist immer schwer, beteuert Wallner. Um ein Vielfaches schwerer, fast unmöglich, war und ist sie während der Coronakrise. Denn zum einen braucht man dafür die persönliche Beziehung zu den Klienten, nicht nur die "Daten", warum jemand in finanziellen Schwierigkeiten ist, warum er in Gefahr ist, seine Wohnung zu verlieren. "Wenn man vor jemandem sitzt, kriegt man einfach ein Gefühl für die Person", sagt Wallner. Und man bemerkt nicht selten noch weitere Probleme. Wenn derjenige etwa schon tagsüber eine Alkoholfahne hat oder krank und depressiv wirkt. Es hilft, wenn man ihn dann anlächeln kann, wenn man ausstrahlen kann, dass man für ihn da ist. "Wenn man eine gute Beziehung zu einem Klienten hat, dann geht der auch Schritte mit", sagt Wallner. Und eine gute Beziehung kann man einfach nur aufbauen und erhalten, wenn man demjenigen persönlich begegnet, ihn kennenlernt.

Dass dies plötzlich aufgrund der Coronakrise nicht mehr möglich war, stellte die Wohnungsnotfallhilfe vor unglaubliche Probleme, die Betroffenen reagierten heftig. "Die einen wurden noch lethargischer, die anderen aggressiv und ungeduldig", so Wallner. Die Probleme begannen schon im Kleinen, etwa damit, dass man nicht mehr neben jemandem sitzen und ihm beim Ausfüllen eines Antrages helfen konnte. Das am Telefon zu erklären, scheiterte in vielen Fällen. Ein Formular als WhatsApp-Foto zu verschicken, konnte hier und da helfen. Auch Begegnungen über den Gartenzaun oder Balkon kompensierten fehlende direkte Kontakte. Aber sie reichten bei Weitem nicht an das Niveau von vorher heran.

Das bestätigt auch Tanja Fees, Koordinatorin der Obdachlosenberatung des AWO-Kreisverbands. "Ab März mussten wir plötzlich ins Home-Office. Mitte Mai sind wir dann wieder zu den Leuten gefahren. Was wir vorfanden, war eine Katastrophe." Viele hatten ihre Arbeit verloren, aber keine Anträge auf finanzielle Hilfen gestellt, weil niemand ihnen hatte helfen können. "Ich bin monatelang hinterhergerannt, um so viel wie möglich aufzuholen und zu erledigen", so Fees. Dabei stieß sie auf weitere Probleme. "Viele Stellen haben alle ihre Türen zugemacht wegen Corona", sagt sie.

Jobcenter, Arbeitsagentur, anfangs auch die Krankenkassen, sogar Beratungsstellen wie die Schuldnerberatung schlossen einfach ihre Türen, es gab keine Termine mehr. Aus den Jobcentern hieß es: Wir sind im Home-Office, scannen Sie die Unterlagen und schicken Sie sie. Das aber sind für viele Menschen unüberwindbare Schwierigkeiten. Die früher vorhandene Möglichkeit, direkt im Amt mündlich einen Antrag zu stellen, ist bis heute komplett weggefallen. Und das wurde mit dem Teil-Lockdown im Herbst nicht besser.

In völligem Elend

Viele ihrer Klienten fand Fees Mitte Mai in völligem Elend vor. "Da geht es wirklich ums Verhungern", sagt sie. Die Familien hatten teilweise schon alles ins Pfandhaus gebracht, bei Freunden Geld geliehen. "Wenn es dann nicht weitergeht, besteht die Gefahr, kriminell zu werden", so Fees. Eine andere Möglichkeit würden viele nicht mehr sehen.

Die Mitarbeiter der Wohnungsnotfallhilfe aber hatten von Anfang an ein großes Ziel: Sie wollten ihre Klienten nicht verlieren. Deshalb schlossen sie nicht ihre Türen, schafften Hygienemittel aller Art an und waren erfinderisch. Trotzdem konnten sie viel Elend nicht verhindern. Als etwa die Schulen geschlossen waren und sich Familien in Notunterkünften zwei Zimmer teilen mussten, es kein Internet gab, und die Kinder in der Schule weit zurückfielen. "Das können die nie mehr aufholen", sagt Fees. Schlimm war und ist auch die Lage der Alten und Kranken, die in Obdachlosenasylen leben und sich oft nicht mehr hinaus trauten vor Angst.

Die Spende aus dem SZ-Adventskalender will die Wohnungsnotfallhilfe unter anderem in die "Handkasse" investieren, aus der man unkompliziert helfen kann, etwa für Schuhe oder Tablets für die Kinder.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2020
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