Süddeutsche Zeitung

Quarantäne-Blues:Die Antwort gibt der Pinsel

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Der Sauerlacher Kalligraf Jürgen Fiege offenbart in seinen abstrahierenden Tuschezeichnungen seelische und poetische Zustände. Besonders gerne arbeitet er mit dem Autor Peter Reuter zusammen

Von Anna-Maria Salmen, Sauerlach

Wer hätte jemals gedacht, einmal eine überfüllte Fußgängerzone vermissen zu können, in der sich Menschen dicht an dicht drängen, sodass man sich kaum den eigenen Weg durch die Menge bahnen kann? Was noch in der vergangenen Vorweihnachtszeit die Nerven strapazierte, mag für manchen jetzt die Erinnerung an eine unbeschwerte Normalität sein, an die Zeit vor Ausgangsbeschränkungen, Kontaktnachverfolgung und Maskenpflicht. Ein Gedanke, der auch den Grafiker und Kalligrafen Jürgen Fiege aus Sauerlach und den Autor Peter Reuter aus dem südpfälzischen Kapellen-Drusweiler beschäftigte. Im Sommer ist ihr gemeinsames Buch "Quarantäne-Blues" (Kulturmaschinen-Verlag) erschienen. Wie Dialoge zwischen Autor und bildender Künstler liest sich das Werk, in dem sich nachdenkliche und philosophische Texte finden, illustriert mit dazu passenden Tuschezeichnungen. Doch auch gesellschaftskritische und geradezu lästerliche Gedichte sind zu lesen, jedoch immer freundlich, betont Fiege, mit einem Augenzwinkern. Das Hamstern von Toilettenpapier ist ebenso Thema wie die Angewohnheit einiger Menschen, kurz vor Inkrafttreten von Kontaktbeschränkungen "nochmal die Sau raus zu lassen", wie Fiege es nennt. Auch die Sehnsucht nach der vollen Fußgängerzone, die Fiege und Reuter unerwartet überkam, verarbeiten sie in ihrem Werk.

Die beiden Männer lernten sich vor Jahren über soziale Netzwerke kennen, erzählt Fiege. Ein persönliches Treffen ließ die Idee für ihr erstes gemeinsames Buch "Am Fluss" (Edition Federhalter),entstehen, das im vergangenen Jahr erschienen ist. "Peter Reuter schreibt viele Haikus, eine Form, die für manchen Leser etwas schwierig ist", sagt Fiege. "Es bietet sich hervorragend an, sich damit auseinanderzusetzen." Der Sauerlacher Künstler sieht sich dabei jedoch nicht als reiner Illustrator der Worte: "Der Autor hat den Text vorgetragen, ich habe mit dem Pinsel eine Antwort gemalt." Die Arbeit für das zweite Buch verlief ähnlich, aufgrund der Pandemie aber nicht bei persönlichen Treffen, sondern im digitalen Raum per Videokonferenz. Heraus kam dabei dennoch eine Art "Werkstattgespräch", das laut Fiege sehr persönliche Einblicke erlaubt - sowohl auf Seiten des Autors als auch auf Seiten des Künstlers. "Mein Pinsel ist die Fortsetzung der Seele", sagt der 69-jährige Grafiker. "Jedes meiner Bilder ist ein "Coming out", es zeigt meinen seelischen Zustand während des Malens."

Verschiedene Einflüsse haben Fieges Kunst im Laufe der Zeit verändert. Fasziniert von chinesischen und japanischen Schriftzeichen erlernte der Grafiker nach einer Chinareise die asiatische Kalligrafie. Bei Aufenthalten in New York entdeckte er die Graffiti-Technik für sich. "Man konnte daran gut sehen, wie Kunst entsteht: Von der Straße bis in die etablierten Galerien hinein", erzählt Fiege. Die Elemente Kalligrafie und Graffiti ergänzte der Künstler schließlich um "etwas Eigenes", wie er sagt. Dafür beschäftigte er sich stark mit Körpersprache, später auch mit Gesichtern. Dabei sei es ihm wichtig, Emotionen zu vermitteln - "etwas, das ich in einem Gesicht lesen kann". Fiege erhebt keinen Anspruch darauf, anatomische Details perfekt abzubilden, arbeitet vielmehr meist stark abstrahierend.

Gleiches gilt nicht nur für Fieges Darstellungen von Menschen, sondern auch für seine Landschaftsbilder. Er spielt mit den Grenzen der Abstraktion, lotet aus, wie weit er gehen kann, damit das Gemalte gerade noch erkennbar bleibt. Der Künstler demonstriert diese Gratwanderung an einem seiner Werke: Mit der Hand verdeckt er ein oberes Eck des Bildes - zu sehen sind nur einige horizontale Linien, manche dick, andere dünn. Fiege enthüllt den zuvor versteckten Teil des Papiers. Zum Vorschein kommt ein runder, dunkler Fleck, der im Zusammenspiel mit den Linien darunter als Vollmond oder Sonne über einer Landschaft erkannt werden kann. "Ich habe kein Interesse, etwas zu kopieren", sagt Fiege. "Ich erfinde Landschaften und versuche, darzustellen, was ich empfinde." Ästhetik sei für ihn dabei eher zweitrangig. Er versteht seine Bilder als Sprache, will kommunizieren.

Eine Botschaft an die Menschen bringen, das soll nun auch das neue Buch. Zum einen soll es ein Mittel gegen den Blues der Pandemie sein. Zum anderen aber möchten Fiege und Reuter auf die schwierige Situation der Kulturschaffenden hinweisen. Denn bei Entscheidungen über neue Beschränkungen wird die Kulturbranche als reine Unterhaltung eingestuft. "Wir sind aber viel mehr als das. Wir wollen die Menschen auch zum Nachdenken bringen", sagt Fiege. "Eine Gesellschaft, die niemanden mehr hat, der Alternativdenken ermöglicht, geht irgendwann zugrunde."

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Quelle:
SZ vom 21.11.2020
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