Süddeutsche Zeitung

Mitten in Baierbrunn:Natürlicher Leistungsdruck

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Im Landkreis München spielt der Leistungsgedanke eine große Rolle, selbst wenn es um die Natur geht

Von Udo Watter

Schönheit hat ihren Preis. Und der geht manchmal zu Lasten der Einsamkeit. Das Isartal südlich von München ist ja eine Zierde der Natur, ein Magnet der Naherholung und ständig in Gefahr, von den Stadtbewohnern überlaufen zu werden. Man könnte sagen: Selbst schuld, Natur, wenn du so dick aufträgst wie im Moment: Die Zeit, in der die Baldachinspinnen mit Hilfe ihrer silbrig glänzenden Flugfäden durch die Luft schweben, ist hier halt eine besonders schöne: Der Altweibersommer lässt einem im Isartal, wo das funkelnde Wasser, die gleißenden Kiesel und die sich in Gelb- und Rottönen verfärbenden Blätter eine verführerische Kombination eingehen, die Augen übergehen.

Wer auf dem Damm zwischen Isar und Kanal gen Süden entlang radelt, wird freilich nicht nur mit ästhetischen Reizen und vielen anderen Ausflüglern konfrontiert, er könnte auch an Oscar Wilde denken, der behauptete, es sei nicht die Kunst, welche die Natur nachmache, sondern umgekehrt. Der Kanal mit seiner spiegelglatten Oberfläche gemahnt an ein Display, er ist ja auch die optimierte Version des ungezähmten Flusses auf der anderen Seite. Insofern imitiert hier die Natur die Differenz zwischen echter und digitaler Wirklichkeit. Später, auf dem Weg zum Georgenstein, auf Baierbrunner Gemeindegebiet, ist es wieder ein vereinter Wasserlauf, der sich dem Betrachter bietet.

Die Gegend, die um die Wende zum 20. Jahrhundert ein Sehnsuchtsort für Lebensreformer und "Kohlrabipäpste" wie Karl Wilhelm Diefenbach war, wird noch mal wilder und zum besonders schützenswerten Raum. An einer Kurve nahe dem Ufer weist ein Schild des Landratsamtes München darauf hin: Der Wald in Richtung Hangkante darf demnach von 1. Januar bis 1. November nicht betreten werden, um "die Leistungsfähigkeit der Natur" zu erhalten. Der wirtschaftlich anmutende Duktus ist insofern logisch, als der Landkreis München zu den leistungsstärksten der Republik zählt und die FDP, die sich laut Selbstverständnis besonders für die so genannten Leistungsträger einsetzt, hier gerade zweitstärkste Partei wurde. Muss sich demgemäß Leistung auch für die Natur lohnen? Schon, aber eigentlich ist Schönheit zweckfrei.

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Quelle:
SZ vom 17.10.2017
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