Süddeutsche Zeitung

Köpfe des Jahres:Die Gesichter der Pandemie

Lesezeit: 3 min

Dieses Jahr war für alle eine Herausforderung - für einige Menschen ganz besonders

Von Iris Hilberth, Michael Morosow und Martin Mühlfenzl, Landkreis

Es liegt in der Natur der Sache, dass in einer Pandemie die Wissenschaft besonderes Gehör findet. So etwa der Universitätsprofessor Christian Kähler, der an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg das Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik leitet. Er ist unter anderem mit seinen Forschungen zur Funktion von Luftreinigungsgeräten zu einem der Gesichter der Corona-Krise im Landkreis München geworden. Aber auch andere Menschen haben dieses Jahr geprägt und begleitet. Eine kleine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Der Arzt

Oliver Abbushi arbeitet sozusagen an der Front. Der Mediziner betreibt in Oberhaching eine Hausarztpraxis und bekommt schon im Frühjahr zu spüren, welche enormen Auswirkungen die Corona-Pandemie auf seine und die Arbeit seiner Angestellten hat. Schon früh im April beschreibt der 47-Jährige, der an der Charité in Berlin promoviert hat, wie sich die Arbeitsabläufe in der Praxis verändert haben; eigene Slots werden eingerichtet, um die Patienten getrennt voneinander behandeln zu können, um ihnen Ängste vor einem Besuch zu nehmen. Denn wichtig ist, auch chronisch Kranke inmitten der Pandemie weiter behandeln zu können. Oliver Abbushi ist dies umso mehr ein Anliegen, als er mit der Ausrufung des Katastrophenfalls im Frühjahr von Landrat Christoph Göbel zum Versorgungsarzt des Landkreises München ernannt wird, damit ist er gewissermaßen der oberste Mediziner des Kreises und dem Landrat direkt unterstellt. Seine Aufgabe ist es, in erster Linie die hausärztliche Versorgung sicher zu stellen, den Betrieb als solchen aufrecht zu erhalten, die Arztpraxen mit ausreichend Schutzkleidung zu versorgen. Und die ist im Frühjahr Mangelware. Auch im Sommer nimmt Abbushi diese Aufgabe im Landratsamt in enger Abstimmung mit dem Gesundheitsamt wahr, obwohl dies außerhalb des Katastrophenfalls eigentlich nicht vorgesehen ist. Mittlerweile gilt dieser wieder - und Abbushi ist natürlich weiter an Bord.

Der Professor

Kein Name aus der Wissenschaft im Landkreis München ist mit der Pandemie wohl so eng verbunden wie der von Christian Kähler von der Universistät der Bundeswehr in Neubiberg. Der Physiker, der das Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik leitet, hat allerlei Studien zum Corona-Virus erstellt. So testete er sowohl die Wirksamkeit von verschiedenen Schutzmasken, untersuchte Raumluft-Reinigungsgeräte und empfahl Trennscheiben gegen Aerosole. Für die Visualisierung der Tröpfchen beleuchtete Kähler die Luft vor dem Windkanal mit einem Laser. So ließ sich erkennen, wohin und wie weit sich die möglicherweise mit Viren verseuchte Aerosole im Raum bewegen. Auch das Infektionsrisiko beim Musizieren haben Kähler und sein Team untersucht und festgestellt: Der in Bewegung gesetzte Luftbereich ist umso größer, je kleiner der Schalltrichter des Instrumentes, je tiefer der Ton und je stoßartiger die Tonfolge ist. Die größte Virenschleuder aber ist die Querflöte.

Die Patientin

Anneliese Figue weiß im Nachhinein, dass ihre Busfahrt am 2. März mit einer Reisegruppe an den Gardasee keine gute Idee war, zumal zu dieser Zeit Mailand und Teile der Lombardei bereits von der Corona-Pandemie betroffen waren. Den Leichtsinn hätte die im Ayinger Ortsteil Dürrnhaar lebende Theaterfrau beinahe mit ihrem Leben bezahlt. Am Frühstückstisch war sie zusammengeklappt und ohnmächtig zu Boden gekracht. In München kämpften danach die Ärzte um ihr Leben, versetzten sie in ein Koma und schlossen sie an ein Beatmungsgerät an. Als Warnung für alle, die glauben, dass Corona nicht mehr als eine Grippe sei, schilderte die 78-Jährige ihren dramatischen Kampf ums Überleben in einem sechsseitigen Heftchen unter dem Titel "Ein teuer erkaufter Urlaub", ließ 2500 Exemplare drucken und an alle Ayinger Haushalte verteilen. Anneliese Figue ist mit dem Leben davongekommen, leidet aber heute noch unter den Folgen. Wenigstens benötigt sie nicht mehr für jeden Schritt in ihrer Wohnung Luftzufuhr von einem Sauerstoffgerät. "Und ich habe wieder volle Haare", freut sie sich.

Der Heimarbeiter

Kann ein Bürgermeister die Geschicke einer großen Gemeinden von zu Hause aus lenken. Er kann, wenn er muss. So geschehen in Unterhaching. Normalerweise ist es ja so, dass der Zweite Bürgermeister einspringt, wenn der Erste verhindert ist. Und wenn der auch nicht kann, gibt es immer noch den Dritten Bürgermeister. In der 26 000 Einwohner zählenden Gemeinde fielen im Oktober allerdings plötzlich alle drei gleichzeitig aus. Das kam so: Erster Bürgermeister Wolfgang Panzer (SPD) und Dritter Bürgermeister Richard Raiser (CSU) hatten gemeinsam mit dem Volleyball-Team zum Saisonstart einen Ausflug mit dem Bus unternommen. Hinterher stellte sich dann heraus, dass ein Teilnehmer bereits mit Corona infiziert war. Das hatte zur Folge, dass Erster und Dritter Bürgermeister als Kontaktpersonen der Kategorie I in eine zweiwöchige Quarantäne mussten. Es gibt zwar noch Zweite Bürgermeisterin Johanna Zapf von den Grünen. Doch auch sie konnte in dieser Zeit nicht den Chefsessel im Rathaus einnehmen, weil sie gerade ihr zweites Kind erwartete. Also bliebt das Amtszimmer vorübergehen leer, Wolfgang Panzer im Homeoffice und sämtliche Sitzungen wurden abgesagt. Angesteckt hatten sich beide Bürgermeister glücklicherweise nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5158366
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.12.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.