Süddeutsche Zeitung

Corona-Hotspot Haar:Der Dunkelziffer auf der Spur

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In der Gemeinde ist die Zahl der Neuansteckungen ähnlich hoch wie unlängst in Berchtesgaden, trotzdem werden allenfalls einzelne Klassen geschlossen. Der Unterschied könnte an den Testungen liegen.

Von Bernhard Lohr, Haar

An der Haarer Mittelschule ist die Welt, soweit man das in Zeiten einer Pandemie sagen kann, gerade einigermaßen in Ordnung: Keine Klasse befindet sich in Quarantäne. Rektor Markus Fauth weiß zurzeit lediglich einige Schüler besser zu Hause aufgehoben, weil diese im häuslichen Umfeld Kontakt zu Infizierten hatten. Doch an anderen Schulen in der Gemeinde war und ist die Lage ernster. An der Grundschule am Jagdfeldring und am Ernst-Mach-Gymnasium sind am Freitag Quarantänemaßnahmen für mehrere Klassen ausgelaufen, in der Grundschule an der St.-Konradstraße bleiben noch Klassenzimmer bis zum 23. November leer, auch Kitas sind betroffen.

SZ-Leser Thomas Schmelzer aus Haar hat die Sieben-Tage-Inzidenz auf seine Gemeinde herunterrechnet und warnt: Haar ist ein Hotspot. Würde man verantwortlich handeln, sagt er, müssten die Schulen in der Gemeinde mit gut 21 000 Einwohnern längst geschlossen sein. In Berchtesgaden sei dies bereits bei niedrigeren Zahlen geschehen.

Die Gefährdung durch das Coronavirus richtig einzuschätzen, ist keine leichte Übung. Das Landratsamt gibt täglich die Zahl der Neuinfektionen heraus und verkündet den vom Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) offiziell berechneten Inzidenzwert. Für einzelne Gemeinden wird offiziell keiner ausgewiesen. Für den Landkreis stieg die Sieben-Tage-Inzidenz am Freitag auf 166,6. Und die Lage in Haar? Am Donnerstag kamen zwölf Neuinfizierte hinzu, übertroffen an diesem Tag nur von Ottobrunn (14) und Unterschleißheim (15). Auch an den Tagen davor waren es jeweils zweistellige Zuwächse, nur am Freitag wurde erstmals seit langem kein neuer Fall aus Haar gemeldet. 398 Infizierte zählte die Gemeinde am Freitag seit Ausbruch der Pandemie, gefolgt von 387 in Unterhaching. In Unterschleißheim waren es Stand Freitag sogar 411 dokumentierte Ansteckungen. Wer wie Thomas Schmelzer den Inzidenzwert für Haar ausrechnet, kommt seit längerem konstant auf Werte jenseits 300.

Hochrechnen oder Schönrechnen?

Er fragt deshalb in Schreiben, die auch Landrat Christoph Göbel (CSU) erreichen: "Sollen wir mit Schul-, Hort- und Kitaschließungen warten, bis ein Wert von 400 oder 500 erreicht ist?" So wie es jetzt etwa im Landkreis Traunstein der Fall ist. Das Landratsamt hält Schmelzer in einer Antwort entgegen, dass Aussagen für Kommunen unter 100 000 Einwohnern "wenig aussagekräftig" seien. Die "statistisch hochgerechnete" Inzidenz für Haar liege bei 190, und damit im Bereich anderer Kommunen. Schmelzer, der Arzt ist, spricht von Schönrechnen der Zahlen.

Auch wenn gerade in der Mittelschule für alle Unterricht stattfindet, ist Schulleiter Thomas Fauth natürlich weit davon entfernt, Entwarnung zu geben. Er nennt es schlicht "Glück", dass seine Schule in dieser Woche von Quarantänemaßnahmen verschont geblieben ist. Im Oktober sind Klassen nach Hause geschickt worden. Eine Erklärung für die hohen Zahlen in Haar hat Fauth aber: Es ist der niederschwellige Zugang zur Corona-Teststation des Landkreises an der Wasserburger Straße, an der sich Menschen ohne Anmeldung spontan testen lassen können. "Ich glaube schon, dass das mit reinspielt, dass dadurch mehr Fälle bekannt werden." Er selbst schicke auch Schüler mit Symptomen dorthin. Die Testung sei unkompliziert und das Ergebnis flott da.

Der Blick auf die Zahl der Getesteten in Haar legt die Annahme nahe, dass die Teststation die Zahlen in die Höhe treibt. Dem Landratsamt zufolge entfallen von 1500 an einem Werktag im Landkreis getesteten Personen alleine 1000 auf die Station in Haar. Etwa 50 Prozent der Getesteten kämen direkt aus Haar, heißt es aus der Pressestelle. Ob es wirklich so viele sind, kann Victor Hauschild, stellvertretende Leiter der Malteser-Teststation, nicht bestätigen. Er sagt, er habe bei Diensten den Eindruck gewonnen, dass tatsächlich viele aus umliegenden Gemeinden kämen, auch aus München. Doch unstrittig ist wohl, dass in Haar die Quote der unentdeckten Corona-Fälle niedriger sein dürfte als in Gemeinden, wo nur mit Termin getestet wird. Bürgermeister Andreas Bukowski (CSU) rät deshalb, die Zahlen besonnen zu bewerten. Er sagt, er werde in vielen E-Mails auf die vielen Infizierten hingewiesen. Aber: "Die Bezugsgröße ist immer der Landkreis und nicht Haar."

Auch Unterschleißheim habe hohe Zahlen. An einem Tag liege bei den Infizierten Haar vorne, an einem anderen eine andere Kommune. Aus Sicht des Bürgermeisters ist entscheidend, dass die Kontakte von Infizierten nachverfolgt werden könne. Und dies sei gewährleistet. Vier Personen seien dafür im Rathaus sieben Tage die Woche abgestellt. "Wir haben das noch gut im Griff", so Bukowski.

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SZ vom 14.11.2020
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