Süddeutsche Zeitung

Laim:Im Supermarkt fürs Leben lernen

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"Nah & gut", ein von Auszubildenden geführter Laden, zieht um an die Landsberger Straße. Betreut von Profis machen Jugendliche dort erste Schritte in ein geregeltes Berufsleben. Die Bilanz aber muss auch hier stimmen

Von Andrea Schlaier, Laim

Diese Gegend ist weitgehend frei von Erwartung. Wer auf der Südseite der Landsberger Straße, 400 Meter stadtauswärts vom Laimer Kreisel, alle heiligen Zeiten mal den Gehweg im Dunst der Abgase abschreitet, hält nicht inne, wenn in der langen Schaufenster-Reihe statt einer Döner-Stube, eines Matratzenladens oder Pizza-Services mal eine dunkle Lücke klafft. So wie zurzeit auf Nummer 317. Hier machte bis vor kurzem ein Bürobedarf- und Toner-Laden Geschäfte. Seine letzten Spuren kleben noch als Regenbogen-Banner auf der straßenschmutzigen Scheibe. Sollte dieser Tage doch einer innehalten und reinschauen auf die leer geräumte Verkaufsfläche, gut möglich, dass er dort zwei Frauen, Mitte 50, stehen sieht. Die beiden richten ihren wenig erfreuten Blick auf die schwarze Decke, von der Kabel in unterschiedlichen Formationen baumeln. Handwerker sind gerade dabei, die alten Wasser- und Heizungsrohre mit Dämmrollen zu ummanteln. "Und hier", sagt Sabine Loibl-Gänsbacher, diejenige der beiden, die gern mal kraftvoll Widrigkeiten zur Seite lacht, "sollte eigentlich in ein paar Tagen das teuerste Klassenzimmer der Stadt eröffnen".

Die Geschäftsführerin des Euro-Trainings-Centre (ETC), eines anerkannten Vereins als Träger der freien Jugendhilfe, hat mit ihrer Kollegin Evelyn Hahn für dieses Projekt in jüngster Vergangenheit schon so viele Steine aus dem Weg gewuchtet, dass sie es mit dieser Verzögerung auch noch aufnimmt. Denn was sie als Klassenzimmer bezeichnet, ist Münchens einziger echter Azubi-Supermarkt, eröffnet mit dem primären Ziel, hier junge Menschen mit schlechten Schulerfahrungen und manch anderen Schwierigkeiten zu Verkäufern und Lageristen auszubilden. Bis zuletzt verkauften die aktuell 18 Auszubildenden Brokkoli, Nudeln und Joghurt in der ehemaligen Stadtbibliothek an der Parlerstraße am Harthof.

Aber der Reihe nach. Seit 2006 bilden sie beim Euro-Trainings-Centre Jugendliche, die sich in eine Lehre und einen Betrieb nicht leicht einfinden könnten, für den Lebensmittel-Einzelhandel aus. Zunächst nur theoretisch. Als 2012 Edeka vom Lieberweg im Harthof wegzog, hinterließ er eine Versorgungslücke. Vor allem nicht Motorisierte, Ältere und Kranke hatten ab sofort im Umkreis von 800 Metern keinen Supermarkt mehr. Weil sich Loibl-Gänsbachers Verein in vielen sozialen Bereichen und Schulen des Münchner Nordens engagiert, wollte man auch hier unterstützend wirken und entwickelte die Idee, die bestehende theoretische Supermarkt-Ausbildung zu einer "echten" zu machen. Profitieren sollten damit gleichermaßen bedürftige Bewohner des Viertels und Auszubildende.

Der Versuch sollte klappen. Unterstützt von Edeka und einem ehemaligen Marktleiter macht man seither Geschäfte in "Nah & gut", mit im Boot sind Arbeitsagentur und Jobcenter. Als in den Laden wieder ein regulärer Vollsortimenter einziehen wollte, wanderte die Ausbildungsfamilie 300 Meter weiter in die ehemalige, leer stehende Stadtteilbibliothek an der Parlerstraße. Doch hier wird gebaut, die gemeinnützige Bildungseinrichtung samt aktuell 18 Azubis sowie den betreuenden Profis aus dem pädagogischen wie dem Lebensmittelbereich suchten einen neuen Standort, an dem wieder, wie Loibl-Gänsbacher sagt, "zwei Fliegen mit einer Klappe" geschlagen werden können: Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen und die Lebensmittelversorgung am Rande eines Viertels sicherzustellen.

"An der Ecke hier", sagt Evelyn Hahn, "stören wir in Laim niemand". Aldi, Lidl und Edeka sind weiter entfernt. Die "Emma Zone", ein kleiner, gerade bei Seniorinnen beliebter Gemischtwarenladen mit Mittagstisch und Poststelle ein paar Meter weiter am Pronnerplatz, haben die beiden ETC-Frauen schon entdeckt. "Wir glauben nicht, dass wir denen in die Quere kommen." Die Landsberger Straße 317, sagt Loibl-Gänsbacher, "haben wir nach sehr langer Suche in der Stadt als einen Ort betrachtet, wo wir gebraucht werden und niemanden stören". Als Vollsortimenter gehen sie auch hier an den Start. "Es wird die Aufgabe des Marktleiters sein zu checken, was die Kundschaft vor Ort will." Der Posten ist inzwischen besetzt. Der neue Chef hat zuvor verantwortlich bei "Bonus-Markt" gearbeitet, einem ähnlichen Projekt, das aus Baden-Württemberg kommt.

Spätestens am 1. März sollten die Türen der Laimer Dependance aufspringen. Doch dann entdeckten die neuen Mieter unter der abgehängten Decke Wasser- und Heizungsrohre, die nicht isoliert sind und Kabel, die nicht dem Brandschutz entsprechen. Immerhin sind auf den 400 Quadratmetern Verkaufsfläche inzwischen die neuen Steinböden verlegt. Und, seufzt Loibl-Gänsbacher, "Gott sei Dank dürfen wir in der ehemaligen Stadtbibliothek an der Parlerstraße noch länger bleiben. Die Stadt München hat uns eine Galgenfrist bis Ende März gewährt." Im neuen Laden wird auch noch ein Unterrichtsraum Platz haben und einer für begleitende Sozialpädagogen abgetrennt. Mit den Jugendlichen wird dort der Berufsschulstoff noch einmal aufbereitet, für die Abschlussprüfungen. Die 16- bis 22-Jährigen kämen alle mit schlechten Schulerfahrungen.

Und auch sonst fehle es zuweilen an alltäglichen Fertigkeiten, weshalb auch gemeinsam gekocht werde. Loibl-Gänsbacher erinnert sich an einen Fall: "Der sollte den Salat waschen, hatte das nie zu vor gemacht, geschweige denn gesehen. Mit Spüli wollte er die Blätter sauber machen." Beim Arbeiten zwischen den Auslagen, sagt Evelyn Hahn, erfahren die Jugendlichen, dass sie doch was können. Müssen sie auch, denn in der Bilanz muss eine schwarze Null stehen. "Am Anfang sind die Azubis für einen Regalmeter allein verantwortlich, es wird immer mehr und manche machen am Schluss sogar die gesamte Ladenbestellung." 90 Prozent der Prüflinge eines Jahres schafften den Abschluss im ersten Anlauf, alle andern im zweiten.

Es wird wohl April/Mai werden, bis die Kasse im "Nah & gut" an der Landsberger Straße klingelt. "Wir müssen vorher noch Klinken putzen und Zettel in die Fenster hängen, damit die Leute auch wissen, wann's endgültig los geht," sagt Hahn. Die Erwartung steigt - selbst in dieser erwartungsfreien Gegend.

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Quelle:
SZ vom 21.03.2018
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