Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Die Mitwirkung wird ausgehebelt

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Stuttgart 21 und die S-Bahn-Stammstrecke in München: Bürger können bislang Projekte verzögern, auch lahmlegen

Von Ulrike Steinbacher

Ach, im Bundesverkehrsministerium ist aufgefallen, dass es recht lang dauert, bis Großprojekte der Bahn in Deutschland fertig werden? Und weil der Brenner-Basistunnel 2028 in Betrieb geht und für die Zulauf-Strecke in Deutschland noch nicht mal die Trasse feststeht, pressiert's jetzt? Da liegt es natürlich nahe, solche Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Allerdings nicht, indem man der Bahn Beine macht. Nein, das CSU-geführte Bundesverkehrsministerium zieht die Sache von der anderen Seite auf: Wenn die Bürger mit ihren Einwänden den Bau von Bahnstrecken ständig verzögern, ja, dann nimmt man ihnen halt die Möglichkeit weg, ihre Einwände vorzutragen.

Nichts anderes steckt hinter dem "Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz": Infrastrukturprojekte können künftig per Bundesgesetz beschlossen werden, statt ein Planfeststellungsverfahren zu durchlaufen. Nicht mehr die Experten der Fachbehörde treffen die Fachentscheidungen, sondern Bundestagsabgeordnete, die weder mit der Materie noch den lokalen Gegebenheiten vertraut und in den meisten Fällen daran auch völlig desinteressiert sein werden.

Das an sich ist schon extrem problematisch. Viel schwerer aber wiegt noch, dass gegen so ein Bundesgesetz nicht vor dem Verwaltungsgericht geklagt werden kann. Für die Leute aus der Leschkircher Straße in Trudering, denen die Bahn eine Lärmschutzwand fünf Meter vor den Gartenzaun setzen will, für deren Nachbarn von der Xaver-Weismor-Straße, wo das erste Haus so dicht an den Schienen steht, dass man gar nicht weiß, wo ein zweites Gleis noch hin soll, für alle Anwohner der Bahntrasse im Osten der Stadt, an deren Fenstern künftig alle sechs Minuten ein 700 Meter langer Güterzug vorbeirauscht, heißt das: Um sich gegen die Bahn-Pläne zu wehren, können sie jetzt nur noch das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Beschlossen ist das Gesetz schon, demnächst tritt es in Kraft. In Berlin wird abgewiegelt: Gilt nur für Einzelfälle wie die Strecke München - Mühldorf - Freilassing. Auch das Münchner Planungsreferat beschwichtigt: In der Stadt fallen nur die Truderinger und Daglfinger Kurve unter die Regelung. Aber selbst wenn das zutrifft - müssen die Betroffenen wirklich Verfassungsbeschwerde einlegen, um sich gegen Zuglärm zu wehren?

In Österreich sind der Brenner-Basistunnel und sein Zulauf übrigens längst unter Dach und Fach. Auch dort hat es jede Menge Widerstand gegeben. Aber die Verantwortlichen haben mit den Leuten geredet, haben ihnen das Projekt nahegebracht, sich ihre Kritik angehört, Kompromisse gesucht. Geduldig. Jahrelang.

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Quelle:
SZ vom 26.03.2020
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