Süddeutsche Zeitung

Hilfe für Obdachlose:Ein Bett, eine Decke und etwas Würde

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Von Thomas Anlauf, München

Die dünnen blauen Decken stapeln sich in Kartons bis zur Decke, auf einem Regal liegen noch einmal 160 Stück, akkurat gefaltet. Die Decken sind dafür da, dass in München kein Mensch erfrieren muss. Wer abends, wenn nun die Temperaturen eisig werden, in die ehemalige Militärbaracke der Bayernkaserne kommt, erhält eine Decke, Toilettenpapier und vor allem einen warmen und sicheren Schlafplatz. Das Kälteschutzprogramm in München, das es seit 2012 gibt, ist bundesweit berühmt. Hier können Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, kostenlos übernachten. Nun soll ihnen das Projekt auch im Sommer Schutz bieten.

Am kommenden Donnerstag wird der Stadtrat darüber entscheiden. Bürgermeisterin Christine Strobl und Sozialreferentin Dorothee Schiwy (beide SPD) hoffen auf eine breite Zustimmung für die Ausweitung des Angebots. Denn die Zahl der Obdachlosen und der akut von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen steigt rapide. Gordon Bürk, Geschäftsführer des Evangelischen Hilfswerks in München, schätzt, dass es mittlerweile 1000 Menschen sind, die in der Stadt auf der Straße leben müssen. Vor wenigen Jahren ging das Sozialreferat noch von etwa 350 Obdachlosen aus.

Vor allem aus Rumänien und Bulgarien kommen die Menschen, die in München Hoffnung auf ein besseres Leben haben, zumindest ein bisschen besser als in ihrer Heimat. Da sie aus EU-Ländern stammen und deshalb in Europa Freizügigkeit genießen, haben sie in Deutschland zunächst keine Chance auf eine soziale Unterstützung - und damit auch nicht auf Wohnungslosenunterbringung. Bürk kritisiert dies als "Diskriminierung". Die Europäische Union dulde eine Zweiklassengesellschaft in der EU: Menschen, die Kranken- und Sozialversicherungsschutz haben, und andere, die nicht unter das europäische Fürsorgeabkommen fallen und deshalb keinerlei Leistungen in Anspruch nehmen können. Den Kälteschutz in der Bayernkaserne, der für alle offen steht, den die Stadt als freiwillige Leistung finanziert und den das Evangelische Hilfswerk als Träger betreut, bezeichnet Bürk deshalb als "zutiefst menschliche Verhaltensweise und zutiefst christlich".

Das Programm kostet die Stadt bislang etwa 3,3 Millionen Euro jährlich. Künftig sollen es knapp 1,4 Millionen Euro mehr sein, die dem Evangelischen Hilfswerk für die Unterbringung und die Beratung zur Verfügung stehen. Das ist aber eine vorläufige Summe, denn im kommenden Jahr soll es zunächst einen Testbetrieb geben. Dann können Menschen ohne Wohnsitz ganzjährig bis zu vier Wochen lang kostenlos in einem der Räume übernachten. Es handelt sich dabei allerdings nur um Notschlafplätze, nicht etwa um Wohnraum. Der Kälteschutz öffnet täglich um 17 Uhr, am Morgen müssen die Bedürftigen spätestens um neun Uhr mitsamt aller Habseligkeiten die Unterkunft verlassen haben. Bislang erhalten Obdachlose maximal für sieben Tage eine Berechtigung, die bei Bedarf wöchentlich verlängert werden kann.

Kritiker hatten zunächst befürchtet, dass sich das kostenlose und freiwillige Münchner Angebot schnell unter Obdachlosen in ganz Europa herumsprechen werde. Doch das ist nicht eingetreten. Zwar stieg die Zahl der Menschen, die seit der Eröffnung des Kälteschutzprogramms an der Heidemannstraße, das Angebot nutzen: von knapp 1700 Menschen auf mittlerweile rund 3000 pro Winter. Doch seit vier Jahren sind die Übernachtungszahlen stabil. Zwei Drittel der Gäste sind sogenannte Erstkontakte, also Menschen, die das Angebot zuvor noch nie in Anspruch genommen haben. Jeder vierte Besucher des Kälteschutzes kommt aus Rumänien, 22 Prozent aus Bulgarien, elf Prozent sind Deutsche und fünf Prozent Italiener.

Die hohe Zahl rumänischer und bulgarischer Menschen, die die insgesamt 890 Notschlafplätze aufsuchen, spiegelt auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den südosteuropäischen Ländern wider. Viele Menschen dort haben kaum Zugang zu Bildung und Gesundheitssystem, aus purer Not versuchen sie ihr Glück im Ausland. Doch wer in München "ein bis zwei Euro die Stunde verdient, schafft es niemals, eine Wohnung zu bekommen", sagt Sozialreferentin Schiwy. Viele, die in München stundenweise Arbeit finden, schuften illegal für einen Hungerlohn.

Bürgermeisterin Strobl appelliert deshalb an ihre Stadtratskollegen, am Donnerstag für die Ausweitung des Schutzprogramms zu stimmen. Denn es müsse doch "in einer Stadt wie München möglich sein, sich ein Stück weit die menschliche Würde zu bewahren". Das ist auch in München keine Selbstverständlichkeit. Vor einigen Jahren hatte die damalige Sozialreferentin Brigitte Meier (SPD) gefordert, dass die Obdachlosen für ihre dünnen Decken in der Notunterkunft Geld zahlen sollten, das wurde vom Stadtrat allerdings unterbunden. Und erst seit dem vergangenen Winter können die Bedürftigen mit ihrem Berechtigungsschein, den sie sich an der Schillerstraße nahe dem Hauptbahnhof abholen können, auch kostenlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu der Schlafstelle im Münchner Norden fahren.

In ein paar Jahren wird die Kälteschutzunterkunft, die bald wohl ganzjährig besteht, wegen des geplanten Neubaugebiets auf dem Gelände der Bayernkaserne umziehen müssen. Von 2023 an steht an der Maria-Probst-Straße ein Gebäude zur Verfügung, wo Menschen im Winter wie im Sommer übernachten können. Es ist ein Obdach für Menschen, die im Leben keine Sicherheit haben.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2018
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