Süddeutsche Zeitung

Jüdisches Leben in München:Zwei Gesichter dieser Stadt

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Kommentar von Jakob Wetzel

In einem sind sie sich einig, Politik, Kirchen und Verbände: München ist eine weltoffene Stadt. Eine Stadt, in der jeder vierte Einwohner Ausländer ist, und in der das Zusammenleben doch funktioniert. Eine Stadt, in der in den vergangenen Wochen wiederholt mehr als zehntausend Menschen gegen Fremdenhass auf die Straße gegangen sind, weit mehr als alle Teilnehmer an den Bagida-, Mügida- oder Muegida-Demonstrationen zusammen, weit mehr als die 150 Rechtsextremen, die nach Angaben der Polizei am Montag durch die Stadt marschiert sind. München ist eine Stadt, deren Oberbürgermeister stolz ist auf dieses Zeichen der Weltoffenheit. Das ist das eine, das vertraute und auch etwas selbstzufriedene Gesicht dieser Stadt.

Aber der Stolz darf den Blick nicht dafür verstellen, dass es auch ein anderes Gesicht Münchens gibt. Die Stadt ist auch ein Ort, an dem keineswegs alle Menschen ohne Angst leben können - und dabei geht es gar nicht um Fremde, sondern um Münchner. Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde berichten von heftigen, wiederkehrenden Anfeindungen, ganz besonders in den vergangenen beiden Jahren.

Münchner Juden denken ans Auswandern

Die Bürger Münchens haben sich längst an Dinge gewöhnt, die ungeheuerlich sind: daran, dass Synagogen von der Polizei beschützt werden müssen; dass die liberale jüdische Gemeinde Beth Shalom aus Sicherheitsgründen die Adresse ihres Gebetsraumes geheim hält; dass sich die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde nur mit Personenschutz in die Öffentlichkeit wagt. München ist eine Stadt, in der einige Juden auf der Straße ihre Kippa verstecken, damit sie nicht sofort als Juden identifiziert werden.

Es ist verstörend: Während sich die einen für ihre Weltoffenheit feiern, denken zur gleichen Zeit in derselben Stadt jüdische Familien darüber nach, nach Israel auszuwandern, weil sie sich angefeindet fühlen. Es mag sein, dass München eine relativ tolerante Stadt ist, und dass die Lage für Juden anderswo noch schlimmer ist.

Es ist auch gut und wichtig, dass viele tausend Münchner seit Wochen ein Zeichen setzen gegen Ausländerhass. Aber wie viel Miteinander in einer Stadt tatsächlich herrscht, das entscheidet sich nicht dadurch, dass man jeden Montag Demonstrationsteilnehmer gegeneinander aufrechnet.

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Quelle:
SZ vom 22.01.2015
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