Süddeutsche Zeitung

Jüdisches Leben:Ganz anders als im Geschichtsbuch

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Die Nazis ernannten München zur "Hauptstadt der Bewegung". Trotzdem leben viele junge Juden gerne hier.

Von Jacqueline Lang

Hannah und Sarah haben schon viel von der Welt gesehen, dabei sind sie erst 17. Sie haben in Russland gelebt, in der Türkei, in Ägypten, immer dort, wo ihre Mutter arbeiten musste. Nun hat es sie nach München verschlagen. Deutschland, sagen die beiden, sei für sie das mit Abstand sicherste dieser Länder. Ausgerechnet Deutschland. Hannah und Sarah sind Jüdinnen.

Die beiden Zwillinge (Namen geändert) sitzen in einem Café in Bogenhausen, machen Witze mit der Bedienung, und Hannah zeigt allen am Tisch, was sie heute bei TK Maxx geshoppt hat: ein schwarzes Portemonnaie und ein Maniküre-Set in Pink. Voll süß, findet sie. Auf den ersten Blick der ganz normale Wahnsinn zweier Teenager in München.

Wären da nicht manche Fragen, die ihnen immer wieder gestellt werden. Zum Beispiel die, ob überhaupt noch Juden in Deutschland leben. Für viele Juden im Ausland ist das nur schwer vorstellbar. Vor zwei Jahren wohnten zwei Schüler aus Israel eine Woche bei Hannah und Sarah, bei einem Schüleraustausch, organisiert von der Israelitischen Kultusgemeinde. Im Juli 2014 war das, im Gaza-Streifen eskalierte gerade wieder einmal der Israel-Palästina-Konflikt. Viele aus der Schulklasse waren zunächst überrascht davon, wie schön München ist. Davon stand nichts in ihren Geschichtsbüchern. Dort stand, dass Adolf Hitler in München gelebt hat und dass das Konzentrationslager Dachau nicht weit entfernt ist. Das ist ein Stück jüdische, ein Stück deutsche Geschichte. Die von Hannah und Sarah ist eine andere.

Andererseits wissen die beiden, dass die Skepsis gegenüber Deutschland wohl auch ihre Gründe hat. Hannah erzählt, dass eine Lehrerin einmal verwundert zu ihr gesagt habe, dass sie gar nicht aussehe wie eine Jüdin. Und immer wieder müssen die Zwillinge auch ihre Lehrer korrigieren, wenn diese über das Judentum sprechen. Bildung lasse sich eben nicht mit Horizont gleichsetzen, sagen die beiden trocken.

Leonid Guretzky, 34, war sich, anders als Sarah und Hannah, seiner Identität als Jude lange nicht bewusst. In der ehemaligen Sowjetunion geboren, hielten es seine Eltern für besser, ihm nicht zu viel über seine Herkunft zu verraten. Je weniger er wusste, desto sicherer für ihn. Erst als er als Kontingentflüchtling nach München kam, begann er, sich mit seiner Geschichte zu beschäftigen. In München hat er endlich einen sicheren Raum dafür gefunden, wie er sagt. Hier engagiert er sich als Vorsitzender des Verbands Jüdischer Studenten Bayern. Er wolle, dass seine Kinder irgendwann die Wahl haben, ob und wie sie als Jude leben möchten, sagt Leonid: "Ich habe die Verantwortung, das weiterzugeben." Für ihn stellt sich deshalb auch nicht die Frage, ob er lieber in einer anderen Stadt als München leben würde. Wenn alle Juden München verließen, wäre niemand mehr hier, um diesen Auftrag zu erfüllen.

Die Aktivitäten des Verbands sind vielfältig, im Juni zum Beispiel hat er zum Shavuot, dem jüdischen Pfingstfest, eingeladen. Ein kleiner Innenhof im Glockenbachviertel, weiß-blaue Rauten auf den Tischdecken. Sapir von Abel, ebenfalls im Vorstand des Verbands, setzt sich auf die Bank und isst ein Stück Galia-Melone. Die 26-Jährige ist in Israel geboren, aber im Alter von zwei Jahren in ein kleines Dorf nahe München gezogen. Wo ihre Heimat ist? "Ich bin ein bikulturelles Wesen", sagt sie.

Heimat sei dort, wo man begraben werden wolle, sagt Tom W., 23, ein weiteres Vorstandsmitglied. Für ihn ist das Frankfurt. In seiner Kindheit waren seine Freunde größtenteils ebenfalls Juden. Gleiche Grundschule, gleiches Gymnasium, gleicher Fußballverein. Erst in München wurden auch Menschen anderer Nationalitäten und Religionen zu seinen Freunden. Der Studentenverband war dennoch die erste Anlaufstelle für neue Kontakte in einer anfangs noch fremden Stadt.

Das Gefühl, sich für ihr Leben in der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung" rechtfertigen zu müssen, haben die jungen Juden nicht. Sie fühlen sich wohl hier. Auch wenn jüdisches Leben hier eher hinter verschlossenen Türen stattfindet: München ist für sie Heimat. Nur nehmen sie nicht gleich jeden in ihren Kreis auf. Ihre Facebook-Gruppen sind geschlossen, im Internet findet sich keine Adresse. Nicht aus Scham, nicht aus Angst, sie sind einfach nur ein bisschen vorsichtig. Und vor allem wollen sie nicht reduziert werden auf ihre Religion oder Kultur. Darauf, dass sie Juden sind.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2016
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