Süddeutsche Zeitung

Judith Westermann:Ein Blick durchs Schlüsselloch

Lesezeit: 2 min

Regisseurin Judith Westermann weiß, wie Telenovelas funktionieren

Interview von Wiebke Harms

Judith Westermann, 29, Drehbuchautorin und Regisseurin, hat Regie, Produktion, Medienwirtschaft und -wissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen in München studiert. Sie erklärt, wie Telenovelas funktionieren und warum manche von ihnen Ausdruck der Emanzipation sind.

SZ: Frau Westermann, Sie haben ein Jahr in Argentinien gelebt und an der Filmhochschule in Buenos Aires studiert. Wer schaut dort Telenovelas?

Judith Westermann: Das sind sehr unterschiedliche Leute. Das macht die Telenovela auch aus: Sie führt verschiedene Gruppen von Menschen zusammen, auch unterschiedlichen Alters. Es geht darum, gemeinsam die Welt der Serie zu erleben. Die Telenovela findet ihren Weg selbst in die entlegensten Gegenden des Landes. Auch in kleinen Dörfern im Norden Argentinien läuft eigentlich immer der Fernseher.

Wie machen die Serien das?

Die meisten erlauben dem Zuschauer einen Blick durchs Schlüsselloch auf eine andere Klasse. Die Hauptfigur ist häufig eine Frau aus ärmeren Verhältnissen, der es gelingt, Grenzen zwischen Schichten zu überwinden. In Lateinamerika dienen die Sendungen so auch der gesellschaftlichen Aufklärung. Sie haben die Möglichkeit, aktuelle Themen anders aufzubereiten.

Was sind das für Themen?

Wenn es beispielsweise um eine junge Frau geht, die sich trotz widriger Umstände durchbeißt, kann das auch eine Geschichte über Emanzipation sein. Das ist jedoch von Serie zu Serie und Land zu Land unterschiedlich. Es gibt genügend Telenovelas, die ein sehr klassisches Rollenbild vermitteln.

Warum identifizieren sich in Deutschland schon sehr junge Mädchen mit der Serie?

Wahrscheinlich hängt das mit der Hauptfigur zusammen. Sie ist für die Zuschauer eine Identifikationsfigur. Die Serienmacher konzipieren sie speziell für eine Zielgruppe. Je nachdem, wer sich in der Hauptfigur wiedererkennt, wird ihr und der Serie folgen.

Die Serie scheint einen gewissen Suchtfaktor zu haben. Welches Prinzip steckt da dahinter?

Telenovelas erzählen nicht einfach eine Handlung, sie arbeiten mit dem Stilmittel des "erzählenden Aufschiebens". Zum einen mit Cliffhangern am Ende jeder Folge, zum anderen, indem der Hauptperson immer wieder Steine in den Weg gelegt werden. Im Gegensatz zu Daily-Soaps bewegt sich die Handlung jedoch - wenn auch auf vielen Umwegen - auf ein Ende zu.

Diese Form des Erzählens stammt aus Lateinamerika - warum hat sie sich gerade dort entwickelt?

Telenovelas sind eine Weiterentwicklung des Fortsetzungsromans. Es wird gesagt, dass den Arbeiterinnen auf Kuba früher in den Fabriken Geschichten vorgelesen wurden. Später hörten sie Radio. Jeder Tag war ein Kapitel. Irgendwann hat das Fernsehen diese Art zu erzählen übernommen.

Was ist filmerisch das besondere daran?

Im Gegensatz zu Filmen lassen sie nichts aus, sie nutzen keinen elliptischen Erzählstil. Alles, was die Hauptfigur erlebt, sieht der Zuschauer auch auf dem Bildschirm.

Das kann sich lange hinziehen - Violetta hat 240 Episoden. Wir das sind nicht irgendwann nervig?

Doch, irgendwann muss die Hauptfigur ihr Ziel erreichen. Ein interessantes Beispiel ist die deutsche Telenovela, "Verliebt in Berlin". Die Sendung wurde aufgrund des überraschenden Erfolgs verlängert. Auf einmal standen die Autoren vor der Herausforderung, eine Serie weiter zu schreiben, die eigentlich schon auserzählt war.

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Quelle:
SZ vom 26.03.2015
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