Süddeutsche Zeitung

Literatur:Visionen zwischen Pilstreff und Wurstbude

Lesezeit: 2 min

Jan Weilers neuer Roman "Der Markisenmann" ist eine Liebeserklärung ans Ruhrgebiet.

Von Anna Steinbauer

Mumbai oder Kopenhagen hat Ronald Papen im Gepäck, wenn er seine Tour macht. Was nach großer, weiter Welt klingt, sind in Wirklichkeit banale Markisen in zwei unterschiedlichen Varianten, die der Vertreter ganz altmodisch an der Haustür verkauft. DDR-Originalbestand aus den Siebzigerjahren: Die eine besticht durch eine Melange von braunen, gelben und orangen Farbverläufen, bei der anderen dominiert ein Neongrün mit gelben und blauen geometrischen Mustern. Ziemlich scheußlich, findet die 15-jährige Kim, als sie im Sommer 2005 ihren Vater und dessen Tätigkeit erstmals kennenlernt.

Bis dahin weiß die Protagonistin aus Jan Weilers neuem Roman "Der Markisenmann" nicht viel über Papen, den sie auch "den Unscharfen" nennt. Lediglich ihr Nachname und ein altes Urlaubsfoto liefern Kim einen Anhaltspunkt für die Existenz ihres ihr bis dato unbekannten Erzeugers, von dem sie immer annahm, er hätte keinerlei Interesse an ihr. Doch alles ändert sich, als der aufmüpfige Teenie nach einem familiären Unglücksfall von der Mutter und dem verhassten Stiefvater für die Sommerferien plötzlich zu ihrem Vater abgeschoben wird.

Mittels QR-Code kommt man zum Soundtrack für das Buch

Dass dieser gar nicht so ist, wie sie ihn sich vorgestellt hat, liegt auf der Hand und wird von Weiler in wunderbaren Details ausgemalt: Papen ist alles andere als erfolgreich, er hört gerne die Puhdys und kennt alle Imbissbuden im Ruhrgebiet, ist sanft und zuweilen melancholisch. Zudem wohnt der Vertreter, der seinem Beruf stoisch und penibel wie einer selbst auferlegten Bußtat nachgeht, in einer Halle auf einem abgerockten Gewerbehof irgendwo bei Duisburg, wo er neben den 3406 Markisen auch eigene Erfindungen lagert. Niemals zuvor war die verwöhnte Kim an einem solchen Ort, der magisch, nutzlos und zugleich voller Visionen steckt und der wie aus einem dystopischen Science-Fiction-Film anmutet. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich Rosi's Pilstreff, ein Schrottplatz und eine Spedition, wo sie auf das ebenso liebenswürdige wie skurrile Personal des Romans trifft: den Skatprofi Oktopus, den recyclingbesessenen Alik, sowie Achim und Lütz, denen keine Wette zu blöd ist. Natürlich markieren die sechs Wochen bei ihrem Vater einen besonderen Wendepunkt, der beide Leben für immer verändert. Kim stellt sich nicht nur als gewieftes Verkaufstalent heraus, sondern lüftet auch düstere Geheimnisse aus der Vergangenheit.

Der 1967 in Düsseldorf geborene Weiler, der seit vielen Jahren in München lebt, hat nach seinen erfolgreichen Kriminalromanen um den Kommissar Martin Kühn und dem Kolumnenband "Die Älteren" nun eine rührende Coming-of-Age-Story geschrieben, die mit lakonischem Witz auch eine tragikomische Post-Wende-Geschichte erzählt. Und natürlich ist "Der Markisenmann" auch eine Hommage an das Ruhrgebiet in allen seinen rostigen, sumpfigen Facetten, den Industriecharme, die Pilskneipen und die "Akropolis"-Wurstbuden. Damit man auch weiß, wie das klingt, gibt's den Soundtrack zum Roman auf Spotify, den QR-Code dazu findet man hinten im Buch. Hören kann man Weiler aber auch selbst: auf Lesetour.

Jan Weiler: "Der Markisenmann", Heyne Verlag, 336 S., 22 Euro, Lesung aus "Die Älteren" im Kleinen Theater in Haar am 21.5., 19 Uhr und aus "Der Markisenmann" in der Buchhandlung Pustet in Freising am 23.5., 20 Uhr

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