Süddeutsche Zeitung

Lifestyle:Hygge für Großstädter

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Nur aus dem Bett quälen war gestern. Heute muss man den "Miracle Morning" zelebrieren, was bedeutet, dass man früh aufsteht und verträumt eine dampfende Tasse Tee umklammert. Hurra, du lebst! Nutze den Tag!

Kolumne von Christiane Lutz

Den Blick für den Zauber des Alltäglichen zu bewahren, ist schwierig. Vor allem, wenn man das Gute und Schöne jeden Tag so selbstverständlich vor der Nase hat wie in München. Der Großstädter hat die Dankbarkeit und Achtsamkeit offenbar verlernt. Deshalb geben seit geraumer Zeit Magazine, Blogs und Lifecoaches Hilfestellung dabei, das Gute im Alltäglichen wieder zu finden. Das sieht dann so aus, dass man morgens nicht mehr einfach aufstehen darf. Man muss den "Miracle Morning" zelebrieren, was bedeutet, dass man früh aufsteht und verträumt eine dampfende Tasse Tee umklammert. Hurra, du lebst! Nutze den Tag! Wer früher "in Jogginghose daheim Rumhängen" betrieb, macht heute "Hygge". Und was einst Waldspaziergang hieß, nennt man heute Waldbaden. Ja richtig: Baumrinden streicheln, Vögeln lauschen und zwischendurch mal an Fichtenzapfen schnüffeln.

Findige Reiseveranstalter haben den Trend längst erkannt und bieten orientierungslosen Großstädtern eine Woche Waldbaden im Bayerischen Wald an, Birkenstabmassage inklusive, was immer das auch sein mag.

Eine andere wirksame Methode, sich des Guten wieder bewusst zu werden: für ein paar Tage amerikanischen Besuch einladen. Der Amerikaner nämlich geht mit so glänzenden Augen umher, wie sie sonst nur Kinder beim Betrachten einer Wursttheke haben. Munich, City of Wonders! Kirschblüte in der Preysingstraße? So awesome. Fahrradwege für Fahrräder? So cool. Mit dem Blick des Besuchers wird jede schnöde Alltagshandlung zum dokumentierungswürdigen Event, zum Miracle quasi. Die Orlandostraße, die kein Münchner kennt, weil dort nur souvenirgewordene Scheußlichkeiten feilgeboten werden, verwandelt sich zur pittoresken Flaniermeile. Und wenn man nicht aufpasst, findet man sich am helllichten Tag beschwipst im Hofbräuhaus wieder und beobachtet gerührt die paar Einheimischen, die sich aus unerfindlichen Gründen immer noch dorthin verirren. So authentic!

Das Schlimmste, was einem mit Amerikanern in München blühen kann, ist, kulturelle Vermittlungsarbeit betreiben zu müssen. Dann nämlich, wenn die Gäste ihr Bairisch mit einem "Seavuss" vergnügt an irritierten Passanten üben und nicht begreifen können, warum in dieser brutal historischen, supersüßen Stadt nicht alle auch immer voll gut drauf sind.

Besonders achtsamkeitsverstärkend wirkt aber noch immer das sogenannte "Happy Tschüssing", wenn der Besuch nach einer Woche wieder entschwindet, vollbepackt mit Souvenirs aus der Orlandostraße. Wie magisch die Ruhe, wie duftend der Morgen. Nie ist der Alltag zauberhafter.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2019
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