Süddeutsche Zeitung

Hörkunst:Jenseits von Zeit und Raum

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Die digitale Klangausstellung "Para - Unset Time and Pace" erweitert experimentell die Möglichkeiten des Online-Radios

Von Martin Pfnür, München

Die Kaperung des erfrischend mainstreamfernen Münchner Online-Radiosenders "Radio 80 000 verlief schleichend und doch konsequent. Sie begann am 7. März mit einem ins laufende Programm eingestreuten reisephilosophischen Hörspiel der italienischen Künstlerin Giulia Zabarella - und nahm dann von Tag zu Tag mehr Fahrt auf: hier eine geisterhafte Koproduktion von Martin Brugger aka Occupanther und dem Münchner Pianisten Carlos Cipa, die unter dem Titel "Murmur" drei leere Magnetbandschleifen murmeln lassen; dort eine transzendierend dauerkreiselnde Klangerzählung der Argentinierin Sol Rezza, die mit "Finite Infinite" auf Georg Cantor referiert, der als Begründer der Mengenlehre einst die Unendlichkeit in die Mathematik einführte. Hier eine Arbeit des Theatermusikers Benedikt Brachtel, der für seine "Transit Aria" Tanzbewegungen der brasilianischen Tänzerin Black Pearl de Almeida Lima in einem Ballettstudio aufnahm, kurz bevor diese sich einer Geschlechtsumwandlung unterzog; dort ein geradezu meditativer Track der kenianischen Produzentin [MONRHEA], die mit dem von einer mächtigen Basslinie angeschobenen "Still" die kräftigenden Effekte der Stille beschwört.

"Parasitäres Andocken" nennen Kalas Liebfried, Anja Lekavski und Jakob Braito ihren digitalen Kaperungsprozess, der nach einem kompletten "Radio Takeover" des Radio-80 000-Programms (inklusive sämtlicher zugehöriger Social-Media-Kanäle) Ende März in einer Digitalen Klangausstellung mündete. Er vollzog sich über eine Vielzahl an Beiträgen, die stets auf dem Screen von Radio 80 000 über den fluide wabernden Schriftzug "Para" kenntlich wurden. "Para", das steht hier als Präfix des Dazwischens und Danebens für mehrerlei. Zum einen für die explizit wandelbare "Non-Label-Organisation", zu der sich Liebfried, Lekavski und Braito zusammenschlossen, um kuratorisch an Schnittstellen zwischen Formaten, Stilen und Ausdrucksformen zu agieren. Zum anderen aber auch für ihr erstes Projekt "Para - Unset Time and Pace", das dieser Prämisse auf verschiedenen Ebenen nachkommt.

Wo sich die Schnittstellenarbeit angesichts der weitergedachten Möglichkeiten des Online-Radio-Formats und der nun gebündelten Vielfalt der 32 Beiträge zwischen Experimentalmusik und Klangkunst, Sound und Sprache, recht unmittelbar erschließt, zeigt die Umsetzung der thematischen Klammer "Unset Time and Pace" auch neue Wege hinsichtlich der Präsentation auf.

Wie aber stellt man das, was sich in etwa mit einem Nicht-Gesetztsein von Zeit und Tempo übersetzen lässt, im Netz her? Und was bewirkt es? "Es geht um eine Reflexion der Zeitlichkeit im Klang", sagt Kalas Liebfried, der sich als Künstler bevorzugt mit skulpturalen und gesellschaftspolitischen Potenzialen von Klang auseinandersetzt. "Die Frage ist, wie man Klangarbeiten adäquat denken und im digitalen Kontext präsentieren kann. Dafür wollen wir die Linearität von Klang hinterfragen und aufbrechen, die atmosphärische Qualität der Stücke betonen."

Anschaulich wird dieses Unterfangen mit einem Blick auf die Ausstellungs-Website paraparapara.org, auf die man als Radio-80 000-Hörer im Zuge des Radio-Takeovers zeitweilig automatisch weitergeleitet wurde. Während Radio 80 000 nun wieder auf eigenem Online-Terrain sendet, sind Klangausstellung und Radio auch auf der Para-Website in friedlicher Koexistenz vereint. Die Linearität von Klang wird dabei insofern hinterfragt, als die Klangausstellung mittels untereinander angeordneter Module in 32 akustische Räume aufgeteilt und das Programm von Radio 80 000 dort zusätzlich über eine Banderole per Mute- und Unmute-Funktion zugänglich ist. "Man kann diese Räume interaktiv und ohne vorbestimmte Reihenfolge betreten", sagt Kalas Liebfried und verweist auf die Unterschiede zu linearen Formen wie einem Mix oder einer Playlist: "Alle Arbeiten laufen in Endlosschleifen. Das Aussetzen festgelegter Zeitlichkeiten und Tempi wird dabei zentral, da die jeweiligen Längen der Stücke nirgends angegeben werden. Man betritt also den Raum und weiß nicht, ob man sich am Anfang, in der Mitte oder am Ende befindet."

Tatsächlich ist es neben ihrer Diversität ebenjenes zeitlich offene Konzept, das der Ausstellung einen wunderbar eigenen Charakter verleiht. Sie lädt zum spontanen Klangwandeln ein, stimuliert mit einer eindrucksvollen Bandbreite an Beiträgen unterschiedlichster Couleur. Noisiges und Sphärisches, Literarisches und Musikalisches, Field Recordings und Klangskulpturales - kaum ein Kontext, der hier ausgespart wird. "Es herrscht nie Stille", sagt Kalas Liebfried, "außer man schließt sein Browserfenster."

Die Digitale Klangausstellung "Para - Unset Time and Pace" , bis 30. April auf paraparapara.org

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Quelle:
SZ vom 07.04.2021
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