Süddeutsche Zeitung

Himmlische Aussichten. SZ-Serie, Folge 2:Mehr als ein Maulheld sein

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Der Schriftsteller Jonas Lüscher, dem Tod durch Covid-19 nach sieben Wochen im Koma knapp entronnen, wünscht sich München als ein "Großlabor für althergebrachte sozialdemokratische Ideen". Im Vorjahr ist er in die SPD eingetreten

Von Antje Weber

"Maulhelden aller Länder, engagiert euch!" Unter dieser Überschrift rief Jonas Lüscher vor zwei Jahren zu einer Großdemonstration auf. Zusammen mit dem Philosophen Michael Zichy wollte der Schriftsteller Menschen in 50 europäischen Städten auf die Straße bringen, schrieb Sätze wie: "Gemeinsam gegen Nationalismus! Gemeinsam für ein geeintes Europa!" Dem Aufruf folgten Tausende, doch nicht so viele wie erhofft. Ernüchtert sagt Lüscher heute: "Unser Grad an Vernetzung war nicht hoch genug. Weil wir keine Institution im Rücken hatten."

Wo fängt man an, wenn man etwas verändern will? Jonas Lüscher ist ein hervorragender Gesprächspartner in solchen Fragen. Er denkt klarsichtig nach über Gegenwart und Zukunft, er schreibt vielfach ausgezeichnete Bücher, von der Novelle "Frühling der Barbaren" über den Roman "Kraft" bis zur Poetikvorlesung "Ins Erzählen flüchten". Und er ist bereit, durch "innere Not" getrieben, selbst handelnd einzugreifen. In der Tradition von Schriftstellern wie Jean-Paul Sartre hat er seinen "Zufluchtsort der engagierten Literatur" verlassen, um "ein engagierter Schriftsteller" zu werden. Und er weiß natürlich: "Der Begriff des Engagements ist ein wunderbar vieldeutiger."

Wie also will dieser Münchner Schriftsteller, der mehr als ein Maulheld sein möchte, die Zukunft unserer Stadt, unserer Gesellschaft mitgestalten? An einem heißen Sommermittag sitzt Jonas Lüscher, schmaler wirkend als in der Erinnerung, im schattigen Innenhof des Stadtcafés und beginnt zu erzählen. Und da wird erst einmal erschreckend klar: Es ist nicht selbstverständlich, dass ihm selbst überhaupt eine Zukunft vergönnt ist.

Denn es lässt sich in diesem Zusammenhang nicht ausblenden: Lüscher hat sich - sehr wahrscheinlich als freiwilliger Wahlhelfer bei den Kommunalwahlen im März - mit dem Corona-Virus infiziert und ist fast daran gestorben. Der 43-Jährige hat mehr als drei Monate in Krankenhäusern verbracht, davon sieben Wochen im künstlichen Koma. Und das Einzige, was an dieser entsetzlichen Erfahrung vielleicht positiv in die Zukunft weist: Selbst in den Albträumen des Komas, erinnert sich Lüscher, habe es in ihm eine Instanz gegeben, die allzu trivialen Gedanken zum Leib-Seele-Problem aus philosophischer Sicht widersprach. "Die Philosophie hat mich vor dem kompletten Abdriften in diese Traumwelt bewahrt", sagt er, noch immer erstaunt; schließlich hat er vor Jahren eine Dissertation in Philosophie abgebrochen, um sich ganz dem Erzählen zu widmen: "Dass mich die Philosophie rettet, hätte ich nie gedacht."

Was das für seine eigene Zukunft bedeutet, außer dass er wieder mit mehr Vergnügen zu philosophischen Lektüren greift? Ein Buch möchte er nicht darüber schreiben, nein, "aber es wird sicher irgendwie in das Schreiben vordringen". Auch sein Leben möchte Lüscher nicht ändern, durch die äußeren Umstände wandele sich derzeit ohnehin so vieles. Ob zum Beispiel die Auslandslesereisen so schnell wiederkommen, die sein Leben zuletzt prägten? Und so beschäftigt sich Lüscher derzeit mit einem digitalen Projekt: dem internationalen Blog-Dialog "Zeitgeister" über Populismus, den er seit mehr als einem Jahr mit Michael Zichy für das Goethe-Institut moderiert, im nächsten Frühjahr soll dazu ein Buch erscheinen. Und er denkt mit dem Salzburger Philosophen über neue Ideen nach. Sie seien beide zur Zeit ein bisschen pessimistisch, sagt er, nachdem sie kurz gehofft hatten, dass in der Virus-Krise auch eine Chance liege, eine Änderung des Kapitalismus vorstellbar sei. Aus der Demo-Organisation haben beide jedenfalls eines gelernt: "Es ist wahrscheinlich eher unsere Aufgabe zu unterrichten, Bücher zu schreiben und solche Dialoge zu gestalten."

Was aber nicht etwa bedeutet, dass sich Lüscher nun am Schreibtisch festklammert. Im Gegenteil: Bessere Vernetzung suchend, hat er sich den Institutionen zugewandt. Konkret: der SPD. Im vergangenen Jahr ist der gebürtige Schweizer erst in die SP Schweiz eingetreten, als Gründungsmitglied einer EU-Gruppe, dann in die deutsche SPD. Wenn er Zeit findet, geht er zu Versammlungen in Haidhausen: "Ich finde das sehr spannend. Da sind die Leute, die sich tatsächlich engagieren." Und es gehe um die Themen, die Menschen im Alltag wirklich berühren: "Wo kommt der Fußgängerstreifen hin? Gibt es einen neuen Radweg? Wo sind die Mülltonnen?"

Warum sich Lüscher gerade für die SPD entschieden hat: weil er glaubt, dass wir nicht auf sie verzichten können. "Fast alle guten Ideen, die uns heute selbstverständlich erscheinen - Krankenkassen, Sozialversicherung, Mutterschutz, egalitäres Bildungssystem -, sind sozialdemokratische Errungenschaften, die die Sozialdemokratie gegen die Konservativen durchgeboxt hat. Das darf man nicht vergessen." Die Sozialdemokratie müsse sich wieder darauf besinnen, was sie einmal war: eine Partei der Selbstermächtigung. Denn sie komme ja aus Arbeiter- und Handwerkerbildungsvereinen: "Deren Idee war, dass man sich selbst ermächtigt - auch dadurch, dass man seinen eigenen Ressentiments auf die Spur kommt und versucht, die Welt zu verstehen." Das sei ja etwas, was die Rechtspopulisten heute gar nicht mehr wollten. Deren Methode sei: "Man füttert die Ressentiments und sagt: Die Welt ist so kompliziert, die brauchst du gar nicht zu verstehen. Das ist eine Form des Paternalismus, die unerträglich ist."

Gerade die reiche Stadt München wünscht sich Lüscher daher als ein "Großlabor für althergebrachte sozialdemokratische Ideen". In der dringendsten Wohnungsfrage zum Beispiel träumt er davon, dass die Stadt im Sinne des verstorbenen Politikers Hans-Jochen Vogel handelt und "neue, mutige Modelle" entwickelt: "Aber es ist fast schon zu spät." Er wünscht sich München als eine Stadt, in der "viel radikaler links gedacht wird". Mit Ideen, die in besseren Zeiten des Sozialstaats gar nicht radikal gewesen seien, sondern nur "in der ungeheuren Verschiebung nach rechts ins Marktliberale" radikal wirkten: höhere Steuersätze für Spitzeneinkommen, für Vermögen und Erbschaften. Überhaupt müsse man neu über den heiligen Gral des Eigentums nachdenken, "da sollten unsere Politiker viel Piketty lesen".

Er selbst strebt keine politischen Ämter an, könnte sich allenfalls vorstellen, als Autor schreibend oder in Auftritten unterstützend zu wirken. Doch er setzt seine Erwartungen insgesamt niedrig an. Weltverbesserung funktioniere nicht als großes Projekt, sondern eher "in der nahen bis mittleren Reichweite". Wenn man es zu groß fasse, sei "riesige Hybris" dahinter - "und die Gefahr, dass man am neuen Menschen herumdoktert". Große Ideen würden außerdem letztlich nur in relativ kleinen Schritten umgesetzt, mit vielen Rückschritten, ob bei der Französischen Revolution oder dem Arabischen Frühling.

In kleinen Schritten geht es auch mit seinem neuen Romanprojekt vorwärts: Lüscher schwebt ein utopischer Roman zur künstlichen Intelligenz vor. "Es gibt so wahnsinnig viel dystopische Literatur zum Thema, da wird der Mensch von der Maschine versklavt oder im besten Fall als Haustier geduldet - sich vorzustellen, dass es schiefgeht, ist sehr einfach." Doch einfach macht es sich dieser Schriftsteller ungern, und so will er eine "optimistische Prognose" wagen. Will keine große Allegorie entwerfen, sondern wieder einmal anhand eines Einzelfalls ausloten, unter welchen Bedingungen ein sinnvolles Leben möglich ist. Denn das scheint ihm eine der vielen Aufgaben von Literatur zu sein: "kommende Phänomene voraus zu beschreiben und Pfade auszuleuchten, die wir als Gesellschaft gehen könnten". Engagement ist eben wunderbar vieldeutig.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2020
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