Süddeutsche Zeitung

Nach dem Amoklauf in München:Reden über den Horror

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Von Martin Bernstein, München

Etwa tausend Menschen aus München und dem Umland werden in diesen Tagen einen Brief aus dem bayerischen Sozialministerium bekommen. Darin wird ihnen Hilfe angeboten, wenn sie diese wollen. Denn alle Empfänger des Briefs haben eine Gemeinsamkeit: Sie waren am Abend des 22. Juli im Olympia-Einkaufszentrum. Es war der Abend, an dem der 18-jährige Amokläufer David S. neun Menschen und dann sich selbst erschoss.

Die rund tausend Personen, Kunden und Angestellte der Geschäfte, überlebende Gäste aus dem McDonald's, in dem die Bluttat begann, zufällig vorbeikommende Passanten, wurden an diesem Abend von der Polizei als Zeugen gehört, in einem weiteren Schnellrestaurant ein paar Schritte vom Tatort entfernt. Die Münchner Polizei weiß also, wer die traumatischen Ereignisse unmittelbar gesehen hat, und hilft Staatsregierung und Stadt dabei, dass die Hilfsangebote die richtigen Adressaten erreichen.

Bisher haben schon 44 Betroffene bei der städtischen Hotline angerufen. Menschen, die Verwundete und Sterbende sahen, die Schüsse hörten oder sich über Stunden im Olympia-Einkaufszentrum versteckt hielten. "Das sind zum Teil sehr lange Gespräche", sagt Ottmar Schader, Pressesprecher des Sozialreferats. "Eine Stunde vergeht da wie im Flug." Die Anrufer wollen sich das Erlebte von der Seele reden, um es so besser verarbeiten zu können. Manche fragen auch nach konkreten Hilfen.

Zwei sozialpädagogisch geschulte Bezirkssozialarbeiter und zwei Mitarbeiter des Gesundheitsreferats stehen ihnen als Ansprechpartner zur Verfügung. Schader rechnet damit, dass die Zahl der Anrufer in der kommenden Woche zunimmt, wenn alle Betroffenen durch das Schreiben aus dem Sozialreferat auf die Hotline aufmerksam gemacht worden sind. Wenn jemand eine Gesprächstherapie braucht, helfen die Berater und bringen das auf den Weg.

Manche Betroffene sind sich noch unsicher, wie sie künftig mit dem Ort des schrecklichen Geschehens, dem Olympia-Einkaufszentrum, umgehen sollen. Es gebe Jugendliche, die bewusst dorthin gingen, sagt Schader. Andere dagegen würden den Ort meiden. Dass aber Beschäftigte dort nicht mehr arbeiten können und deswegen der Verlust des Jobs droht - von so einem Fall hat Schader noch nicht gehört.

Die Hilfe ist längerfristig angelegt

Die Hotline der Stadt wird es geben, solange Bedarf dafür ist. Die städtischen Hilfsangebote seien längerfristig angelegt, sagt Schader. Dazu gehört auch die Kontaktstelle im Büro des Oberbürgermeisters, die unmittelbar nach der Tat für Menschen eingerichtet wurde, die am Abend des 22. Juli einen Angehörigen verloren haben oder selbst verletzt wurden. Insgesamt 45 Familien haben durch den Amoklauf Leid erfahren und schlimme physische oder psychische Verletzungen davongetragen. Man sei proaktiv auf die Familien zugegangen, sagt der Sprecher des Sozialreferats. "Doch manches wird erst mit etwas Abstand virulent", weiß Ottmar Schader.

Zu den Hilfsangeboten der Stadt zählt eine Art Lotsendienst durch die Krankenhäuser, Ambulanzen, Beratungsstellen, Notdienste und Selbsthilfegruppen sowie die Erstellung ärztlicher Gutachten, die zum Einreichen bei der Krankenkasse benötigt werden. Da geht es außerdem um einen möglichen Wohnungswechsel, um Therapieangebote, auch einmal um Kinderbetreuung.

Und um Kostenübernahmen, wenn gesetzliche Finanzierungsmöglichkeiten Lücken aufweisen. Für solche Fälle hat die Stadt ein Spendenkonto eingerichtet - knapp 4000 Euro sind bisher eingegangen - und einen Hilfsfonds, der zunächst mit 500 000 Euro ausgestattet ist. Die Summe ist ein Einstieg. Der Fonds ist auf Jahre angelegt, der Stadtrat bewilligt bei Bedarf zusätzliches Geld. Die ersten Zuschüsse aus dem Fonds würden wohl bald ausbezahlt, sagt Schader.

Die Hotline für Betroffene ist telefonisch unter 089/233-86 900 oder per E-Mail unter Hilfe-OEZ@muenchen.de erreichbar. Bürozeiten: von 9 Uhr bis 16 Uhr (Montag bis Mittwoch), am Donnerstag bis 17 Uhr, am Freitag bis 13 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2016
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