Süddeutsche Zeitung

Gesellschaft:Der unscheinbare Begleiter, der das Großstadtleben leichter macht

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Christian ist einer der Menschen, die man kaum kennt, doch die einem jeden Tag mehrmals begegnen, die man öfter sieht als beste Freunde - vor seiner Boazn gibt er Acht auf die Straße.

Kolumne von Pia Ratzesberger

Die Straße verändert sich, aber Christian ist immer da. Am Morgen steht er vor seiner Boazn und beobachtet, wie die anderen zu den Bahnen laufen. Am Abend sieht man ihn mit einer Zigarette in der Hand, im Hintergrund flimmert der Fernseher. Meistens Serien, manchmal Bundesliga. Christian ist ein älterer Herr mit Weste und spricht vor allem Griechisch. Doch über die wichtigsten Dinge weiß er sich dennoch zu informieren.

Wenn man mit einem Verband an seiner Boazn vorbei humpelt, zieht er die Augenbrauen hoch. Er fragt dann tadelnd, ob man schon beim Arzt gewesen sei; und man sollte lieber nicht den Kopf schütteln, denn sonst wird er einen von nun an jeden Tag daran erinnern. Wenn man mit einer Stulle in der Hand nach Hause kommt, hakt Christian nach, ob das Brot das ganze Abendessen sei und seufzt: "Zu wenig, viel zu wenig." Wenn man an seiner Kneipe vorbei rennt, um noch die Bahn zu erwischen, ruft Christian einem nach: "Nicht so schnell, nicht so schnell!"

Er ist einer der Menschen, die man kaum kennt, doch die einem jeden Tag mehrmals begegnen, die man öfter sieht als beste Freunde. Diese unscheinbaren Begleiter machen einem das Leben in der Großstadt leichter, eben weil man von seinen Nachbarn nicht unbedingt mehr kennt als ihre Vorliebe für Elektro (Oliver Koletzki), Konstanz im Bett (halbe Stunde nach Mitternacht) oder verbliebene Rauchschwaden im Aufzug (Marlboro).

Da wäre zum Beispiel auch noch der Kassierer im Supermarkt, der sich zuweilen erkundigt, wie es seinen Kunden geht. Letztens sagte der: "Also wird dir jetzt nicht helfen, aber ich sag's dir trotzdem. Mein Tag lief auch sowas von nicht gut." Kurz darauf sah man Christian vor seiner Boazn, eine Kippe in der Hand. Er fragte: "Alles gut?" Alles gut. Man sperrte das Haus auf, die Türen des Aufzug öffneten sich. Es roch nach Tabak.

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Quelle:
SZ vom 02.04.2019
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