Süddeutsche Zeitung

Gräfelfing:Allerhöchste Geometrie

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Den Fotografen Ludwig Watteler faszinieren Gipfelkreuze, für ihn sind sie viel mehr als Bergsteiger-Trophäen oder Alpen-Klischees

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Höher geht es nicht. Näher dran an den Himmel kommt kein Mensch zu Fuß, Gipfelkreuze sind der höchste erreichbare Punkt. Ludwig Watteler fotografiert diese Monumente: Wie die Kreuze erhaben auf dem Gipfel thronen, völlig frei in den weiten Himmel ragen - im Hintergrund federleichte Wolken oder nur Unendlichkeit. Manchmal sind die Kreuze auch vom Nebel verschluckt, oder die Sonne bricht sich in ihrer Geometrie. Es sind erhabene Momente, in 2000 oder 3000 Metern Höhe, wenn Watteler auf den Auslöser drückt. Seit zehn Jahren fotografiert der Gräfelfinger Gipfelkreuze in den bayerischen, österreichischen und Südtiroler Bergen. An die 90 Motive hat er im Archiv, mit denen er schon mehrere Ausstellungen bestritten hat. Für passionierte Bergsteiger, die in Corona-Zeiten aufgefordert sind, die Füße still zu halten, könnten die Gipfelkreuze gerade nicht weiter weg sein.

Ein wenig ist es so, als würde man Ludwig Watteler auf einem Berggipfel treffen. Das Treffen findet per Videokonferenz statt. Der 64-Jährige, der Fotografie unter anderem an der Folkwangschule in Essen studiert hat und als freiberuflicher Fotograf arbeitet, hat die Bergwelt nach Hause geholt. Er sitzt vor einem digital eingeblendeten Hintergrund: eine Szenerie mit Bergen, Wiesen und Seen, die er auf dem Brenta-Trek durch die Dolomiten aufgenommen hat. Watteler geht seit seiner Jugend in die Berge, im Sommer, aber auch im Winter, dann mit Schneeschuhen. Es ist etwa zehn Jahre her, als er nach einer Tour auf einem Gipfel angekommen, auf dem Sockel unterhalb des Kreuzes Platz nahm. Er dreht sich um und sein Blick wanderte schräg nach oben zum Kreuz. Ein Korpus hing an den Balken, es wirkte, als würde er den Wanderer beobachten. "Da hat es Klick gemacht", erinnert er sich an diesen Schlüsselmoment. Diese außergewöhnliche Perspektive, die Geometrie des Kreuzes, haben ihn fotografisch inspiriert.

Die meisten Bergsteiger, die das Kreuz erreichen, blicken vom Kreuz weg, in die Ferne, genießen die Aussicht. Watteler blickt zum Kreuz hin. Die Optik der senkrechten und waagerechten Balken vor freien Himmel, die völlig neue Räume erschließen, faszinieren ihn. Auf den Bildern sind keine anderen Gipfel im Blick, keine Umgebung im Sichtfeld, keine Menschen, nur "der Moment des Kreuzes" zählt. Oft fotografiert er seinen ersten Eindruck vom Kreuz, wenn er nach fünf Stunden Aufstieg die letzte Bergkuppe nimmt und das Kreuz in sein Blickfeld ragt. Auf manchen Fotos ist dann nur die erste sichtbare Spitze des Kreuzes zu sehen. Wetterverhältnisse spielen keine Rolle. Wenn dichter Nebel ist, ist das Kreuz auch nur mal schemenhaft zu sehen. Weitere Bilder entstehen dann, wenn er näher dran ist, dann legt er sich auch mal unters Kreuz und fotografiert steil in den Himmel.

Immer wieder holt Watteler während des Gesprächs gerahmte Fotografien hervor, im Format 30 mal 40 oder 80 mal 60 Zentimeter, alle schwarz-weiß, drucktechnisch aufbereitet, ansonsten ganz puristisch, wie es der jeweilige Moment gebot. Er versucht, sie so in die Kamera zu halten, dass sie auf dem Bildschirm erscheinen. Eines seiner Lieblingskreuzbilder ist das auf der Brecherspitze, auf 1683 Metern Höhe, im Mangfallgebirge. Er hat es bei Minus 15 Grad Celsius aufgenommen, das Kreuz ist völlig mit Eis überzogen. Die Vergänglichkeit der Optik gefalle ihm besonders. Jedes Kreuz steht für eine Bergtour und für unvergessliche Erlebnisse. Die Bilder werden wach in seinem Kopf, wenn er von den Touren berichtet. Watteler erinnert sich daran, wie andere Bergsteiger ihn mal für verletzt hielten, weil er unter dem Kreuz lag, wie ihm ein Hofhund folgte und ihn an einer provisorischen Leine bis auf den Gipfel begleitete. "In jedem Kreuz steckt die ganze Tour".

Höher, schneller, weiter - das interessiert Watteler, der "aus der Kölner Ecke" stammt und 1982 nach München kam, weder am Bergsteigen noch an der Gipfelkreuz-Fotografie. Gipfel und Kreuze gibt es auch ganz in der Nähe: Nur etwas mehr als eine Stunde mit dem Zug entfernt, erreicht man den Fuße des Anklspitz im Mangfallgebirge. Es sei eine schwere Tour, sie werde kaum von Bergsteigern gegangen, doch oben sei ein "wunderschönes Kreuz". Die Touren sucht er sich nicht nach den Kreuzen aus. Sie sind immer ein Überraschungsmoment. Mal sind es moderne Metallkonstruktionen, mal schlichte verwitterte Holzkreuze, mal mit, mal ohne Korpus. Watteler arbeitet digital, seine Kamera hat er an einer Halterung am Oberkörper befestigt. Zu viel Technik will er sich nicht aufhalsen. Er halte es da ganz mit dem berühmten Kollegen Henri Cartier-Bresson. "Der Mensch kümmert sich zu viel um die fotografische Technik und zu wenig um das Sehen", zitiert er sinngemäß.

Ohne Corona wäre er jetzt sicherlich in den Bergen unterwegs, meint Watteler. Schade, dass das nicht gehe, aber er komme damit zurecht. Vorerst lebt er aus der Erinnerung. "Es war herrlich. Die Bergwelt und die Bergtouren waren mir vor Augen und gegenwärtig," wird er nach dem Videotreffen über das Gespräch per E-Mail schreiben. In Corona-Zeiten werden solche Erinnerungen umso wertvoller.

Näheres zu den Fotografien unter www.ludwig-watteler.de

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Quelle:
SZ vom 09.05.2020
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