Süddeutsche Zeitung

GOP-Theater München:Die Kunst, bei der Stange zu bleiben

Lesezeit: 3 min

Noch kann das GOP-Theater München durchhalten, auch wenn es weniger Corona-Hilfen vom Staat erhalten hat als erhofft. Und es zeigt sich solidarisch mit hier gestrandeten Artisten aus Kiew

Von Michael Zirnstein

Einen Moment lang ist es wie früher. "Wie wird das Publikum sein?", fragt sich Alexey Bitkine, "wir sind richtig nervös." Schon der Gedanke an einen Auftritt in ferner Zukunft nach langer Zwangspause lässt den ukrainischen Artisten hier am Nachmittag auf der Bühne des GOP-Theaters schaudern. Ach, dieser verdammte und geliebte Nervenkitzel. Auch den hat die Pandemie irgendwie abgeschafft. Wo keine Zuschauer, da kein Feuer. Kein Lampenfieber, nur dieses verfluchte Corona.

Aber Bitkines Angst sitzt tiefer. Dass er seine Kunststücke noch draufhat, die kraftraubenden Paarnummern am Chinese Pole mit seiner Frau Tatiana, das weiß er. Dafür trainieren er und die anderen vier in München gestrandeten Artisten der Kompanie "Bingo" aus Kiew jeden Tag drei, vier Stunden lang hier im geschlossenen Varieté an der Maximilianstraße. "Wir halten uns in Form", sagt er, "nur wofür?" Covid-19 hat sie arbeitslos gemacht, und sie wissen nicht, ob sie je wieder von ihrer Kunst leben können. Wenn sogar der milliardenschwere kanadische Unterhaltungs-Krösus Cirque du Soleil gegen den Bankrott kämpft, wie viele kleinere Auftraggeber werden die Krise dann überleben?

"Wir sind sicher", sagt GOP-Hausherr Peter Weil, und weil ihn wohl kurz erschreckt, welche Wendungen die Pandemie noch nehmen könnte, ergänzt er: "Zumindest bis Sommer." Bis dahin könne man vom Puffer der erfolgreichen vergangenen Jahre zehren. Auf öffentliche Förderung verlässt er sich nicht. Gerade hat er eine Enttäuschung bei der Corona-Hilfe erlebt. Eigentlich hatte er mit den vom Wirtschaftsministerium versprochenen 70 Prozent des üblichen Monatsumsatzes als Ausgleich für die Lockdown-Ausfälle im November und Dezember gerechnet, und vor Weihnachten läuft das Geschäft normalerweise am besten, sagt der GOP-Geschäftsführer. "Aber wir haben das Geld nicht bekommen." Die EU erlaube diese Unterstützung nur für Betriebe mit einem Umsatz bis zu einer Million Euro im Monat, erklärt Weil. Da läge das Münchner Theater zwar drunter. Nun sei aber jemand auf die Idee gekommen, alle sieben GOP-Filialen in Deutschland als ein einziges verbundenes Theater mit deutlich mehr Umsatz zu zählen. Und so erhält Peter Weil, der mehrmals die Woche das Internet nach neuen Fördertöpfen durchforstet, statt wie erhofft gut eine Million Euro für die zwei Monate nur etwa 100 000 Euro als Erstattung der Fixkosten wie Miete oder Versicherungen. Immerhin. "Die Künstler sind am ärmsten dran", sagt Weil und zeigt auf die Ukrainer. Als er nach der Generalprobe von deren Show "Circus" Anfang November alle weiteren Shows wegen des Lockdowns absagen musste, hat er die Kiewer Truppe eingeladen, in den hauseigenen Künstler-Apartments zu überwintern. "Wir sind dankbar", sagt Tatiana Bitkine, schon der Rücktransport ihres Equipments hätte sie finanziell überfordert.

Und München mögen sie. Hier haben sie schon öfters gearbeitet, im Circus Roncalli, im Circus Krone und im GOP. "Das Publikum hier ist sehr clever", sagt die Vertikaltuchartistin Katerina Gurina, moderner Circus sei hier bestens eingeführt, "die kapieren unsere Show-Konzepte". Denn trotz ihrer klassischen, "russisch" glitzernden Zirkuskostüme machen sie in "Circus" eher Theater, sie erzählen "vom verrückten Zirkusleben", sagt Gurina, während sie ihre Beine mit einer Faszienrolle weichknetet. Alle tragen unglamouröse, aber bequeme Sportklamotten. Ksenya Shytova rekelt sich auf ihrem Handstandpodest, die Tänzerin Hanna Levchenko hängt im Spagat mit einem Fuß auf einem Stuhl, dem anderen am Boden durch, das Ehepaar Bitkine bringt mit einer Wasserwaage seine haushohe Turnstage ins Lot, die sie alle zwei Tage aufbauen. Dann stemmt Alexey seine Tochter Lisa auf den Händen stehend in die Luft. Sie haben sie aus Kiew von der Oma hergeholt, die Online-Schule kann sie auch in München besuchen. Sie waren mit ihr schon im Olympiapark Skifahren, die Skier hatte jemand auf die Straße gestellt. Eigentlich wollten die Bitkines Lisa in einigen Jahren auf die renommierte Municipal Academy of Circus and Variety Arts in Kiew bringen, die sie alle absolviert haben. "Jetzt wollen wir sie lieber auf einen Bürojob vorbereiten. Wir würden ja selbst etwas anderes arbeiten, aber wie haben nur das hier gelernt", sagt Alexey fast beschämt. So weit ist es mit der Live-Kultur schon gekommen.

Internetstreams seien keine Lösung für sie, "keine Emotion", sagt Hanna Levchenko, "wir brauchen das Publikum". So sieht es auch Peter Weil: "Anders als subventionierte Theater leben wir von den Eintrittsgeldern." Und so jongliert er mit den Uraufführungen. Momentan liefe "Bookshop" aus Kanada hier, auch mit "Undressed" von einer anderen Truppe aus Kiew von Mitte März an wird es wohl nichts, er plane nun mit "Camping" zu starten und die Show vom Mai auf Mitte April vorzuziehen, die Künstler seien flexibel. Das Motto "Camping! Endlich! Sonne! Freiheit!" würde passen. Er hofft, dass die Politik rechtzeitig grünes Licht gibt, dass gut gelüftete Theatersäle ("100 Prozent Frischluft" steht jetzt vorne auf den Werbezetteln) nicht zu knapp Gäste einlassen dürfen. "Ab 200 sind wir bei plus minus Null." Und er hofft, dass das Publikum, wie nach dem ersten Lockdown, rasch wiederkommt.

Das wünscht sich auch Alexey Bitkine, "auch wenn wir etwas Angst haben, auf die Bühne zurückzugehen". Sie werden dann mit "Circus" ins GOP Münster umziehen, bis dahin harren sie in München aus, sagt er und blickt besorgt zu Peter Weil. "Kein Problem", sagt der, "ihr könnt bleiben."

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SZ vom 01.02.2021
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