Süddeutsche Zeitung

Gewaltprävention:Warten auf Hilfe

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Mehr Schüler, mehr Probleme - und nicht genug Geld für wichtige Präventionsarbeit. 13 Münchner Organisationen fordern eine bessere Förderung und mehr Zeit im Lehrplan

Von Melanie Staudinger

Steigende Schülerzahlen, Ganztagsunterricht, die Integration von Kindern mit schlechten Deutschkenntnissen und von Kindern mit Behinderung, beengte Verhältnisse wegen all der Baustellen und der provisorischen Containeranlagen - die Anforderungen an Münchner Schulen sind in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Schule ist heute nicht mehr nur ein Ort zum Lernen, sondern ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Lebens verbringen. Schüler aus vielen Nationen, Lehrer, die sich zerreißen zwischen Wissensvermittlung, Leistungsabfragen und der Bewahrung des sozialen Friedens; Sozialpädagogen, die mit einzelnen Störern so beschäftigt sind, dass ihnen für Arbeit mit der ganzen Klasse keine Zeit bleibt: Das ist Alltag an Schulen, auch im reichen München.

Konflikte und Auseinandersetzungen gehören zum Schulleben dazu. Eskalieren die Streitigkeiten aber, kommt systematisches Mobbing oder gar Gewalt dazu, dann sind Schulen oft auf Hilfe von außen angewiesen. Doch weil der Bedarf das Angebot bei Weitem überschreitet, müssen Schulen oft sehr lange auf diese Unterstützung warten. Sechs Monate betrug im Jahr 2016 die durchschnittliche Wartezeit, wie der Arbeitskreis Gewaltprävention ermittelt hat, für 2017 sind die Zahlen noch nicht ausgewertet. Nur drei von 100 Schülern wurden mit einem Präventionsangebot überhaupt erreicht, jede vierte Anfrage mussten die Jugendhilfeträger aus Kapazitätsgründen absagen. "Viele Projekte haben eine lange Warteliste", sagt Robert Pechhacker von der Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik, einer von 13 Organisationen, die sich in München zum Arbeitskreis Gewaltprävention zusammengeschlossen haben. Selbst in akuten Fällen vergingen von der ersten Anfrage bis zum Zeitpunkt, dass jemand in die Klasse kommt, manchmal zwei Monate oder länger.

Ein Grund für die Kapazitätsengpässe ist, dass schlicht Geld fehlt. Die Schülerzahlen steigen, die öffentlichen Zuschüsse halten nicht Schritt. Um die drei Millionen Euro bezahlt das städtische Jugendamt jährlich für Gewaltprävention allgemein. Nur drei Organisationen des Arbeitskreises bekommen heuer mehr Geld als im Vorjahr. Die Projekte Kisko vom Erzbischöflichen Jugendamt, Zora des Vereins Imma und "Komm wir finden eine Lösung" vom Kinderschutzbund erhalten jeweils 5000 Euro mehr, um ihre Warteliste zumindest ein wenig abzubauen. "Die Beratungsgespräche, die vielen Telefonate und Abstimmungen - unsere Vorarbeit sieht man einfach nicht", sagt Eva Wastian von der Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik.

Dabei ist Gewaltprävention mittlerweile anerkannt. "Es hat sich viel verändert", sagt Renate Grote-Giersch vom Verein Brücke. Vor 25 Jahren sei Gewaltprävention etwas für sogenannte Schmuddelschulen gewesen: "Heute sind die Schulen viel offener." Eine gute Schullaufbahn dürfe nicht vom Glück oder Zufall anhängen, erklärt Wastian. Zum Bildungserfolg trage ein Wohlfühlklima in der Schule entscheidend bei. Aktuelle Studien aber zeigen, dass Beschimpfungen, Hänseleien, Prügel und Ausgrenzung Probleme sind, die nicht mehr nur an Mittelschulen in sozialen Brennpunkten auftreten. Sie sind an allen Schularten zu finden, von der Grundschule über das Gymnasium bis hin zur Berufsschule. Jeder sechste Schüler in Deutschland wird regelmäßig Opfer von teils massiver körperlicher oder seelischer Misshandlung durch Mitschüler. Mehr als jeder zehnte Elf- bis 17-Jährige ist von Mobbing betroffen. Drei bis acht Prozent müssen Cybermobbing in sozialen Medien und per Smartphone-Chat hinnehmen Die Zahl der Opfer, die von den Schikanen krank werden und ärztliche Hilfe brauchen, nimmt in München stetig zu, wie Experten berichten.

"Schule ist immer eine gewisse Zwangssituation. Man kann sich seine Mitschüler nicht aussuchen und auch seine Lehrer nicht. Von so einer Muss-Situation kann man nicht erwarten, dass sie immer und sofort funktioniert", sagt Pechhacker. Ebenso wenig aber gibt es ein Konzept, das allen betroffenen Schulen gleich gut hilft. Deshalb sind die Mitglieder im Arbeitskreis Gewaltprävention ganz unterschiedliche Organisationen. Die Brücke beispielsweise bildet Anti-Mobbing-Coaches aus und bietet ein Coaching für Lehrer, Imma hat sich auf geschlechtsspezifische Projekte spezialisiert, etwa ein Anti-Gewalt-Training für Mädchen. Die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik sieht ihren Schwerpunkt in der Gewaltprävention kombiniert mit politischer Bildung. Das Erzbischöfliche Jugendamt München schickt seine Mitarbeiter zum Konfliktlösungstraining in die Schulklassen, es gibt die Möglichkeit, dass die Schüler gemeinsam wegfahren. Alle Organisationen haben sich, so unterschiedlich ihre Herangehensweise auch sein mag, einheitlichen Standards verschrieben. So liegt der Fokus immer auf der ganzen Klasse, niemals auf einem einzigen Problemjugendlichen. Zudem nehmen die Kinder und Jugendlichen normalerweise freiwillig am Projekt teil und erarbeiten mit Hilfe der Pädagogen Lösungsansätze für ihr spezifisches Problem: Denn wer sich die Regeln selbst gibt, hält sie anschließend auch eher ein.

Beim Thema Gewalt ist eine differenzierte Sicht auf die unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungswelten von Mädchen und Jungen erforderlich. "Jungs sind immer die Lauten. Da gehen die Mädchen manchmal einfach unter", sagt Kristin Hopf von Imma. Junge Frauen scheuten sich eher davor, über eigene Gewalterfahrungen vor Männern zu sprechen. In solchen Fällen helfe es, eine eigene kleinere Gruppe für die Schülerinnen zu bilden und das Problem erst in diesem Kreise aufzuarbeiten.

Wichtig ist den Organisationen, dass es keine Schuldzuweisungen gibt. "Wir würden den Klassen nie sagen, dass alles schlecht ist, was sie tun. Es gibt immer Sachen, die gut funktionieren. Die heben wir hervor", sagt Pechhacker. Einig sind sich die Jugendexperten auch, dass eine punktuelle Intervention wenig bringt. "Konfliktbearbeitung braucht Zeit. Die Kinder und Jugendlichen müssen sich erst einmal öffnen", erklärt Astrid Reschberger vom Erzbischöflichen Jugendamt München. Um Gefühle offen auszusprechen, sei eine Atmosphäre des Vertrauens nötig. Zeit, die aber wegen "der vollgestopften Lehrpläne" oftmals fehle, wie Grote-Giersch sagt. Kirstin Hopf von Imma fordert daher: "Prävention muss eigentlich ein festes Element in der Schule sein und darf nicht nur im Krisenfall stattfinden."

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SZ vom 04.01.2018
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