Süddeutsche Zeitung

Tatort ICE:Arbeitsunfähig nach  Messerattacke

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Ein 61 Jahre alter Zugbegleiter wird von einem Drogensüchtigen an der Kehle verletzt, nachdem er ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hat. Das Schwurgericht verurteilt den 26-jährigen Angreifer zu fünfeinhalb Jahren Haft

Von Andreas Salch, München/Althegnenberg

"Ohne Maske geht das nicht", hatte Zugbegleiter Michael K. freundlich zu einem Fahrgast im ICE 702 gesagt. Es ist später Nachmittag am 16. August 2020. Michael K. bat den jungen Mann, er solle sich beim nächsten Halt in Augsburg eine FFP-2-Maske besorgen. Dann drehte sich der Zugbegleiter um. Nur wenige Augenblicke später griff ihn der Fahrgast, mit dem er gerade eben noch gesprochen hatte, von hinten an und schnitt ihm mit einem Cuttermesser in die Kehle. Zugbegleiter Michael K., 61, überlebte.

Jan L. muss einen Entzug machen

Für die Tat verurteilten die Richter des Schwurgerichts am Landgericht München II den 26-jährigen Jan L. an diesem Montag wegen gefährlicher Körperverletzung zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft. Außerdem ordneten sie dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Jan L. konsumiert bereits seit vielen Jahren harte Drogen im Übermaß: Crack, Kokain, Heroin. Zur Tatzeit habe er in einem "Drogensumpf" gesteckt, hatte der aus München stammende 26-Jährige zum Auftakt des Prozess im November gesagt. Über seinen Verteidiger, Rechtsanwalt Peter Pospisil, gab L. an, dass er sich an die Tat nur "sehr bruchstückhaft erinnern" könne.

Nach der Messerattacke war Jan L. in ein anderes Abteil gelaufen. Dort schlug er mit einem Nothammer die Scheibe ein. Michael K. zog daraufhin die Notbremse. Der ICE, der zu diesem Zeitpunkt mit Tempo 250 fuhr, kam nach einer Minute auf offener Strecke zum Stehen. Jan L. sprang aus dem Fenster und floh. Einen Tag später wurde er gefasst und saß seither in Untersuchungshaft.

Staatsanwalt Bastian Froschhammer bezeichnete die Tat in seinem Plädoyer, als "Racheaktion für die vorhergehende Aufforderung" des Zugbegleiters, sich eine FFP-2-Maske aufzusetzen. Zwischen Anlass und Tat bestehe ein "krasses Missverhältnis". Dass das Opfer überlebt habe, sei "bloßer Zufall". Ein Rechtsmediziner, der Michael K. untersuchte, sagte, wäre der Messerschnitt auch nur um "Haaresbreite" tiefer gegangen, hätte unter anderem die Halsschlagader eröffnet werden können. In diesem Fall hätte der Zugbegleiter keine Chance mehr gehabt. Er wäre unweigerlich binnen kürzester Zeit verblutet. Staatsanwalt Bastian Froschhammer sagte, es habe eine "immense Nähe zur Tatvollendung" bestanden. Er forderte, Jan L. unter anderem wegen versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen.

Gefährliche Körperverletzung

Entscheidend für die Richter des Schwurgerichts war jedoch, dass Jan L. von seinem Opfer abließ, nachdem er es schwer verletzt hatte. "Die Nähe zur Tatvollendung war nicht gegeben", stellte der Vorsitzende, Richter Thomas Bott, bei der Urteilsbegründung fest. Trotz des Schnitts in die Kehle sei das Opfer nicht zusammengesackt und habe auch nicht stark geblutet oder geröchelt. Michael K. sei nach der Attacke Jan K. sogar noch nachgelaufen. Somit "bleibt es letztlich bei einer gefährlichen Körperverletzung." Außerdem ging die Kammer zugunsten von Jan L. davon aus, dass bei ihm zum Zeitpunkt der Tat eine "möglicherweise substanzbedingte Enthemmung" vorgelegen habe. Das Gericht folgte mit seinem Urteil dem Antrag der Verteidigung.

Michael K. arbeitete mehr als 40 Jahre als Zugbegleiter. Aufgrund der Tat ist er schwer traumatisiert und arbeitsunfähig. "Das ist gravierend", sagte Richter Bott bei der Urteilsbegründung. In der Untersuchungshaft sagte Jan L. zu einer Psychiaterin, die ihn untersuchte, nach der Haft wolle er als erstes einen Schweinebraten essen und ein Bier trinken.

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SZ vom 21.12.2021
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