Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Arbeiten in Corona-Zeiten, Folge 5:Mundschutz statt Brautkleider

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Wie viele andere Geschäftsleute auch kann der Grafrather Schneider Ahmad Kouja momentan seiner üblichen Beschäftigung nicht nachgehen. Deshalb näht er für die Gesundheit seiner Mitmenschen

Von Marija Barišić, Grafrath

Er macht es nicht, um Geld zu verdienen. Er mache es, um zu helfen, sagt Ahmad Kouja. Seit einer Woche schon steht der 40 Jahre alte Schneider aus Grafrath jeden Morgen "ganz früh auf", wie er sagt, um Atemschutzmasken zu nähen. Wie viele andere kleine Betriebe, musste auch seine "Kouja Schneiderei" in der Brucker Straße vor etwa zwei Wochen schließen. Seitdem kann Kouja keine Kleidung mehr für seine Stammkunden nähen, die sonst aus ganz Deutschland bei ihm anrufen würden, um Brautkleider oder schicke Kostüme zu bestellen. Von einem Tag auf den anderen verliert der Vater von fünf Kindern all seine Aufträge und damit den gesamten Lebensunterhalt: "Mein Steuerberater hat mich angerufen und gesagt: Du musst jetzt zumachen. Einfach so", erzählt er. Danach sitzt der gelernte Schneider aus Syrien erst mal eine Woche lang zu Hause und macht nichts. Am Montag liest Kouja dann zum ersten Mal, "dass alle dauernd schreiben: Ich habe keine Masken. Wo kriege ich Masken?, ich brauche Masken, Masken, Masken", und fragt sich daraufhin: "Warum mache ich das eigentlich nicht?"

Seitdem hat Kouja 100 Atemschutzmasken genäht. Die meisten davon sind für Erwachsene, "ich nähe aber auch für kleine Kinder", betont der syrische Schneider. Ihm sei nämlich aufgefallen, dass es ja auch vorerkrankte Kinder gebe, die jetzt dringend einen Mundschutz bräuchten, an die aber keiner denkt. Für seinen selbst genähten Mundschutz verlangt Kouja fünf Euro. Der Preis ist allerdings nur ein symbolischer, denn mit den fünf Euro lassen sich nicht einmal die Kosten des Baumwollstoffes und der Vlieseinlage decken, die Kouja für die Herstellung der Masken verwendet. Aber Geld verdienen, das will er ja gar nicht: "Corona ist ein Problem, das uns alle betrifft. Mich, meinen Nachbarn, die ganze Welt. Ich finde einfach, wir sollten alle dort helfen, wo wir können", betont er. Und das glaubt man ihm.

Denn Kouja selbst ist vor acht Jahren mit seiner Familie aus dem kriegsgeschüttelten Aleppo nach Deutschland geflüchtet und weiß, wie es ist, plötzlich auf Hilfe angewiesen zu sein. Damals verlässt der 40-Jährige nicht nur seine Heimatstadt, sondern auch die "große Firma", wie Kouja die Schneiderei in Aleppo nennt, in der er damals mit seinen 40 Mitarbeitern Kleidung für große syrische Firmen näht. In Deutschland muss Kouja dann "von null anfangen", wie er sagt, und wagt einen zweiten Anlauf: 2014, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland, gründet Kouja wieder eine Schneiderei, diesmal in Grafrath. Das Geschäft läuft gut, Kouja baut sich schnell einen treuen Kundenstamm auf, näht jedes Jahr die Faschingskostüme der Brucker Heimatgilde und liefert selbst genähte Hochzeitskleider an künftige Ehefrauen.

Jetzt nur mehr Atemschutzmasken zu nähen, fühlt sich für den Profischneider fast schon wie eine Beschäftigungstherapie an. Das merkt man daran, dass er lachen muss, wenn man ihn fragt, wie lange er denn für einen Mundschutz braucht: "Ich weiß gar nicht. 15 Minuten vielleicht?", antwortet er dann. Im Moment näht Kouja etwa 30 bis 40 Masken pro Tag. Wer auch immer eine braucht, kann unter der Nummer seiner Schneiderei anrufen, eine Bestellung abgeben und den Mundschutz dann selbst abholen oder aber von Kouja per Post nach Hause liefern lassen. Einige seiner Masken können auch im Bioladen in Grafrath erworben werden - so lange der Vorrat eben reicht, den er jeden Morgen im Geschäft vorbeibringt. Kouja macht das nicht nur für die anderen, sondern vor allem auch für sich, für das eigene Gefühl, wie er sagt: "Ich bin eine Woche lang zu Hause gesessen und habe nichts gemacht. Ich weiß nicht, wie es finanziell für mich und meine Familie weitergehen soll, aber ich kann nicht mehr nur denken, denken, denken. Das Nähen hilft mir zu vergessen."

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Quelle:
SZ vom 30.03.2020
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