Süddeutsche Zeitung

Statistik:Oft fehlt das Geld selbst fürs Nötigste

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Immer mehr Menschen sind im Landkreis auf Grundsicherung angewiesen. Steigende Lebenshaltungskosten machen vor allem Rentnern zu schaffen. Frauen sind von Altersarmut besonders betroffen

Von Ariane Lindenbach

Es dämmert schon. Die S-Bahnen sind soeben gefahren, der Bahnsteig in Maisach ist menschenleer. Da kommt ein älteres Ehepaar die Treppe herauf, er trägt eine leere Rolltasche mit sich. Ihre Blicke huschen über die Szenerie. Als sie sich unbeobachtet wähnen, streben sie auf die Mülleimer zu und spähen hinein. Aus einem klaubt der Mann, nicht mehr ganz modern, aber sehr ordentlich gekleidet, eine leere Bierflasche. Acht Cent Pfand gibt es dafür. Die Flasche wandert in die Rolltasche. Man muss nicht lange warten, um solche Szenen zu beobachten. Ob in Maisach oder Mammendorf, Olching oder Oberschweinbach: Die Armut ist überall präsent, ältere Menschen sind besonders stark davon betroffen. Ein Viertel mehr als vor zehn Jahren ist auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Diese Entwicklung bestätigt der Leiter des Sozialreferats, Johannes Loibl. Derzeit erhalten etwa 1050 Menschen im Landkreis Grundsicherung im Alter. "2009 haben wir ungefähr 800 gehabt. Das ist wirklich eine exorbitante Steigerung", wie Loibl betont - um 31 Prozent. "Das kommt eindeutig daher, weil bei uns die Lebenshaltungskosten so hoch sind." Der Referatsleiter zielt in erster Linie auf die hohen Mieten ab. Er berichtet von Rentnern, die zusätzlich arbeiten, wegen einer Mieterhöhung ihre Wohnung verloren haben oder die gut zwei Drittel ihres Einkommens dafür ausgeben müssen.

Was das Problem verschärft, sind die nicht gerade üppigen Beträge, die viele Rentner in Deutschland bekommen. Nach einer Statistik der Deutschen Rentenversicherung haben im Jahr 2014 die Männer eine Durchschnittsrente vom 1 013 Euro erhalten. Unabhängig von einer Witwenrente haben die Frauen rund 762 Euro Rente im Monat. Wie in allen Altersgruppen sind auch bei den Senioren Frauen deutlich öfter arm als Männer. Denn nach wie vor sind sie es, die länger wegen der Kinder Zuhause bleiben und häufiger Angehörige pflegen. Derartige Ausfälle schlagen sich direkt in den Einzahlungen für die spätere Rente nieder.

Das können die ehrenamtlichen Helfer bei den Tafeln regelmäßig beobachten. "Wir merken das ganz krass. Unsere Kunden sind 60 Prozent Rentner, und das vor allem Frauen", berichtet Lydia Bartels. Sie ist fast von Beginn an bei der Brucker Tafel dabei, die - wie alle vier Tafeln im Landkreis - von der Bürgerstiftung für den Landkreis betrieben wird. "Man muss sich diese Frauen vorstellen. Die haben Kinder groß gezogen, und der Mann hat gearbeitet." Und nun fehle ihnen eine eigene Rente in angemessener Höhe. Stirbt der Mann zuerst - statistische Realität - bleibt der Witwe ein kleiner Abschlag von 25 Prozent des letzten Gehalts des Mannes.

In den mehr als zehn Jahren, die Bartels bei der Brucker Tafel mithilft - seit längerem als Leiterin - hat sie schon einiges erlebt. Da ist die lähmende Bürokratie, etwa als eine Kundin einen neuen Herd benötigt hätte. Das Amt habe auf eine Extraprüfung bestanden, die Kundin verweigerte das. Sie griff lieber in das eigene, spärlich gefüllte Portemonnaie. "Sie hat sich eine Doppelherdplatte gekauft", berichtet Bartels. Oder Kunden, die im Winter ein Paar neue Stiefel oder einen Mantel brauchten. Bartels zufolge sind in solchen Fällen schon die Tafel-Mitarbeiter mit ihrem Privatgeld eingesprungen. Denn das Prozedere, bis eine Behörde etwas genehmigt, was über den Regelbedarf hinausgeht, sei lang und zermürbend. "Es tut weh, macht wütend und ist unnütz", sagt Bartels. "Diese langen Wege sind teilweise unerträglich."

Dorothee von Bary sagt, es sei "nicht in Ordnung", dass Menschen mit der Regelversorgung der Krankenkassen keine anständige Brille mit Gleitsichtgläsern bekommen. Nach Ansicht der Vorsitzenden der Bürgerstiftung dürfte das in einem reichen Land wie Deutschland nicht passieren. Und doch ist es Realität, auch bei der Zahnversorgung, die sich zunehmend nur noch die besser Verdienenden leisten können. Um speziell armen Rentnern zu helfen, hat die Bürgerstiftung vor drei Jahren die Seniorenhilfe Sonnenstrahl eingerichtet.

Sie hilft unbürokratisch, beispielsweise wenn eine neue Brille benötigt wird oder der Kühlschrank kaputt geht. In 137 Fällen hat die Seniorenhilfe bislang geholfen. Doch man erreiche nicht immer die Leute, die man erreichen wolle. Das Projekt Sonnenstrahl ist einem älteren, in gesicherten Verhältnissen lebenden Ehepaar aus dem Landkreis zu verdanken. Es trat gezielt mit dem Wunsch an die Bürgerstiftung heran, mit seinen Spenden bedürftige Senioren zu unterstützen. "Denen war das einfach peinlich, wie viele arme alte Leute es gibt", sagt von Bary.

"Das Thema Altersarmut schlägt hier immer öfter auf", berichtet auch Birgit Weiß. Die Geschäftsführerin der Caritas im Landkreis bekommt viel von ihren Mitarbeitern in den Fachdiensten, etwa der Schuldnerberatung mit. Beispielsweise, dass viele alte Menschen noch extra arbeiten so lange sie können. Oder eben mit dem Sammeln von Pfandflaschen ein kleines Extraeinkommen dazu verdienen. Sie fürchtet, genau wie Bartels, Loibl und von Bary, dass die Altersarmut in den nächsten Jahren stark zunehmen wird. Der Sozialverband VdK hat bereits die Kampagne "Rente für alle" gestartet. Dort hat man eine ganz eindeutige Meinung, wie der Kreisgeschäftsführer Holger Hoffmann betont: "Dass das Rentenniveau zu niedrig ist." Deshalb ist er halbwegs erfreut, dass die große Koalition nun doch noch einen Kompromiss bei der Grundrente gefunden hat.

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SZ vom 04.01.2020
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