Süddeutsche Zeitung

Leichte Sprache:Berührende Lesung

Lesezeit: 2 min

Luisa Wöllisch, Schauspielerin mit Down-Syndrom aus Tutzing, bezaubert die Zuhörer mit Texten aus dem Tagebuch der Anne Frank und aus dem "Phantom der Oper" in Leichter Sprache

Von Zoe Englmaier, Germering

Erwartungsvolle Stille herrscht im lichtdurchfluteten Saal der Stadtbibliothek. Luisa Wöllisch bereitet sich auf der provisorischen Bühne vor. Gleich wird die Schauspielerin der Freie Bühne München ihre Lesung beginnen. Die acht Zuhörer blicken erwartungsvoll zu ihr, während sie Details über den Inhalt des Buches erklärt. Die 21-Jährige, die das Down-Syndrom hat, liest zwei Texte in Leichter Sprache. Sie hat die beiden sehr unterschiedlichen Werke selbst ausgewählt. "Ich finde die Themen einfach sehr interessant," erzählt die 22-Jährige. "Ich wünsche euch viel Spaß mit der Geschichte", sagt sie und beginnt ruhig und professionell zu lesen. Eine Welle der Entspannung fließt durch den Raum, die Atmosphäre verändert sich.

Wöllisch liest Auszüge aus "Anne Frank, ihr Leben" von Anne Frank, eine vereinfachte Fassung des Originals mit Namensänderungen, und "Das Phantom der Oper" von Gaston Leroux in Leichter Sprache. Leichte Sprache ist mehr als einfache Wörter und Sätze. Wie Christine Zwilling, Mitglied des Behindertenbeirats Germering erklärt, ziele diese Sprache auf die Verständlichkeit ab. "Was ist das Wichtige, wenn ich meine Steuererklärung lese?", fragt sie. Das sei oftmals schwer heraus zu filtern. Komplizierte Satzkonstruktionen und seltene Fachwörter machten den Inhalt undeutlich. Die Leichte Sprache arbeitet zwar mit einfachen Worten und kurzen Sätzen. Zusätzlich werden Bindestriche zwischen Wortkomponenten gesetzt, auf die Linksbündigkeit des Textes geachtet und Bilder dazu gestellt. Der Text wird durch Absätze lesbarer. "Verstehen macht Spaß und Lust auf mehr", sagt Zwilling. Der in Münster ansässige Verein "Netzwerk Leichte Sprache" erstellte das Regelwerk dieser Ausdrucksform. Das Ziel ist es, allen Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, Texte leichter zugänglich zu machen.

Die Idee zur Lesung stammte von Erika Malland-Eick, ebenfalls Mitglied des Behindertenbeirats. Über die Freie Bühne wurde Wöllisch als Leserin gefunden. Ziel sei es die Inklusion und Barrierefreiheit im Germering zu fördern. "Zum Beispiel müssen manche Schlaganfallpatienten unter anderem das Lesen neu lernen." Auch funktionale Analphabeten hätten Schwierigkeiten, Texte zu verstehen. Das gelinge mit Leichter Sprache weitaus besser, erklärt Zwilling. Während Luisa Wöllisch vorliest, spricht sie deutlich und flüssig und sucht immer wieder den Blickkontakt zu den Zuschauern. Als Schauspielerin ist sie Publikum gewöhnt. Martin Langscheid, Zuhörer aus Gilching, sagt danach, die Lesung sei sehr entspannend und angenehm gewesen. Er ist selbst hörbehindert und sagt, Hörbehinderte hätten oft Schwierigkeiten mit dem Textverständnis. Die Leichte Sprache sei eine gute Alternative. "Der Inhalt eines Textes ist am besten verständlich mit einfachen Worten und Satzbau", sagt Dirk Eick, Ehemann von Erika Malland-Eick, die Lesung. Ihm habe "Das Tagebuch der Anne Frank" besser gefallen. "Es ist verständlicher gewesen", sagte Eick. Auch Margot Ziegler, einer Zuhörerin aus Eichenau, hat die Lesung gut gefallen. Die Auswahl der Werke sei sehr gut gewesen. "Es war sehr berührend," sagt sie. Zuvor habe sie Leichte Sprache nicht gekannt, doch nun sei sie interessiert und wolle mehr über das Thema erfahren.

"Berührend" ist für viele ein passender Ausdruck - die Zuhörer applaudieren begeistert. Von der besonderen Atmosphäre ergriffen will niemand so schnell gehen. So bleiben die Zuhörer noch, um mit Luisa Wöllisch und den Veranstaltern zu sprechen und einen Kaffee zu trinken. "Die Lesung hat mir Spaß gemacht. Ich würde es gern wieder machen," sagt Wöllisch nach ihrer ersten Lesung.

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Quelle:
SZ vom 23.10.2018
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